Nathaniels Seele
spannte sich an. Wenn der Fremde tatsächlich dort hinunterkletterte, würde ihn sein Weg unweigerlich zu jenem Ort führen, nach dem er suchte. Seinem heiligen Ort. Zwar war er – wie die Männer vermutet hatten – kaum noch als Grab zu erkennen, doch aufmerksame Augen würden die aufgeschichteten Steine und die in den Zweigen hängenden Talismane entdecken.
Fieberhaft suchte er nach einem losen Stein, den er werfen konnte, doch das Schicksal war ihm nicht wohl gesonnen. Nathaniel schlug gegen einen brüchig aussehenden Felsvorsprung – vergebens. Schon hatte der Mann den Abhang erreicht, griff nach einem dürren Baum und begann, hinabzuklettern. Einen Fluch auf den Lippen, stand Nathaniel auf, zog einen Pfeil aus dem Köcher und spannte seinen Bogen. Einen Atemzug lang fokussierte er seine Sinne auf das Ziel, bestimmte die notwendige Kraft, den perfekten Winkel und die Auswirkungen des Windes.
Keine Sekunde später bohrte sich das Geschoss einen Fingerbreit neben dem Kopf des Mannes in den Baumstamm. Zitternd schwangen die rot gefärbten Truthahnfedern hin und her.
„Was zum Henker … scheiße noch mal!“
„Verschwindet“, murmelte Nathaniel und fing den Blick des zu Tode erschreckten Mannes ein. „Hier gibt es nichts zu finden.“
„Was in aller Welt ist das?“ Der Blonde hyperventilierte angesichts des Pfeiles. Mit schreckgeweiteten Augen suchte er die Umgebung ab und drehte sich hektisch um die eigene Achse. „Was ist das für eine Scheiße? Was soll das? Wer war das? Ist das ein scheiß Indianerüberfall? Haben die sich im Jahrhundert geirrt?“
„Verschwindet“, knurrte Nathaniel und ging in die Hocke. Kaum etwas verriet seine innere Anspannung. Seine Arme ruhten auf den Knien, seine Hände hingen locker herab. „Verschwindet. Das, was ihr sucht, ist nicht hier.“
„Wir sollten abhauen.“ Das Opfer seiner Manipulation schüttelte sich, als wolle es eine lästige Fliege loswerden. Ächzend zog sich der Schwarzhaarige über den Rand des Abhangs und griff, ehe Nathaniel es ihm ausreden konnte, nach dem im Baumstamm steckenden Pfeil. „Machen wir, dass wir wegkommen. Ich riskiere für diesen Sack nicht mein Leben. Was er sucht, ist nicht hier.“
Den Pfeil umklammernd, stolperte der Mann lautstark durch das Farngestrüpp, schwenkte nach rechts und verschwand mit schepperndem Rucksack in der Dämmerung des Waldes. Sein Gefährte, über den Abbruch der Mission sichtlich erleichtert, folgte ihm nach kurzem Zögern. Der Gestank von Angst vergiftete den Wald. Nathaniel empfand nicht übel Lust, die Befürchtung dieser Idioten wahr werden zu lassen und zwei Pfeile in ihren Köpfen zu versenken. Doch er hielt sich zurück.
Lange, nachdem die Gestalten seinen Augen entschwunden waren, hörte Nathaniel noch ihre plumpen Schritte und das atemlose Keuchen. Menschen hatten verlernt, eins mit ihrer Umgebung zu sein. Sie stolperten so ungeschickt durch die Natur, wie es nicht einmal die Kleinkinder in seinem Dorf fertiggebracht hatten.
Seine Wut ging Hand in Hand mit Verwirrung und aufkeimender Erkenntnis. Möglicherweise ging es der Schamanin nicht um die Frau. Sollte er verhindern, dass man das Grab fand? Lag seine Aufgabe diesmal nicht darin, behütend über das Schicksal seines Volkes zu wachen, sondern über das Geheimnis seiner Kraft selbst? Nun, das war mal etwas anderes, aber mit Sicherheit nichts Neues. Obwohl es in der modernen Zeit schwieriger sein würde, sich als Hüter eines Mysteriums zu bewähren.
Nathaniel blickte auf. Sonnenstrahlen durchdrangen den Dunst des Waldes und wärmten seinen Rücken. Die Vögel, zuvor gestört durch die Eindringlinge, setzten ihr Morgenkonzert fort. Ein Graufuchs schnürte zu Füßen des Felsens durch das Farndickicht, witternd nach in der Erde verborgenen Mäusen. Es war, als verschlösse der Wald das von den Menschen gewaltsam geöffnete Tor und kehrte zu seinem Frieden zurück. Aufatmend lehnte Nathaniel sich gegen den Felsen. Er wusste, dass seine Aufgabe gut war. Er wusste, dass all dies – der Wald, sein Dorf und die Gunst des Schicksals, die über seinem Stamm lag – ohne ihn vermutlich nicht mehr existieren würde. Doch solange die Schamanin ihn drangsalierte, würde sein inneres Gleichgewicht auf sich warten lassen. Sie war es, die ihm den Frieden raubte. Sie allein. Er fragte sich, ob sie einfach vermodern und sterben würde, wenn sie das Ritual der Erneuerung nicht durchführten. Aber solche Gedanken waren überflüssig. Falls er sich
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