Nathaniels Seele
ist für viele nur schwer vorstellbar. Wer als Indianer eine solche sucht, ist sowieso aufgeschmissen, denn kaum jemand will sie einstellen. Nach wie vor sieht man sie als Menschen dritter Klasse an. Man wird nicht müde, ihnen das zu demonstrieren. Nehmen wir nur mal den Uranabbau. In Pine Ridge habe ich überall die Bohrlöcher gesehen. Die Verantwortlichen kümmert es einen Scheißdreck, dass die Familien in der Nähe der Abbaustellen reihenweise an Krebs erkranken und sterben wie die Fliegen. Die Lebenserwartung in den Reservaten liegt bei gerade vierzig Jahren, das ist heutzutage ein verdammt mieser Durchschnitt. Von der Selbstmordrate wollen wir gar nicht reden. Der Krieg ist offiziell vorbei, aber der Massenmord geht weiter. Ich hörte von Wissenschaftlern, die die Verseuchung im Reservat beweisen und publik machen wollten. Aber ehe ihnen das gelang, wurden sie in tödliche Unfälle verwickelt. Oder die Geschichte mit dem Touristenzentrum, das angeblich Wohlstand schaffen sollte und doch nur dazu benutzt wurde, den Lakota eine weitere Schlinge um den Hals zu legen. Man versprach ihnen Arbeitsplätze, doch nach Umsetzung der Pläne waren die Statistiken noch mieser als vorher.“
„Wie kommt denn so was?“
„Man schließt Verträge, die eine Menge Hintertürchen offen lassen. Man wählt schwammige Formulierungen und dreht sie am Ende so, dass das Gegenteil vom Versprochenen herauskommt. Du weißt schon, all diese Tricks und Kniffe, die in unserer Welt an der Tagesordnung sind, um Ahnungslose übers Ohr zu hauen.“
Josephine starrte auf das schwappende, schwarze Gebräu in ihrer Tasse. Sie fühlte sich schlecht. Elend und bis zum Scheitel angereichert mit schlechtem Gewissen. „Denkst du, Nathaniel kommt aus ähnlichen Verhältnissen?“
„Keine Ahnung. Ich war noch nie in einem der Crow-Dörfer. Aber ich weiß, dass dieser Stamm von einem anderen Schlag ist. Sie verfielen nie den Verlockungen der Weißen. Jedenfalls nicht in dem Maße wie ihre Leidensgenossen. Sie galten damals nicht nur als gefürchtete Krieger und geschickte Diebe, sondern vor allem als Händler, die man nicht über den Tisch ziehen konnte. Ich bin kein Experte, aber ich habe gehört, dass es die Crow im Gegensatz zu den anderen Stämmen geschafft haben, auch fruchtbares Land zu behalten. Sie verpachten oder verkaufen es an Farmer wie euch. Aber sie besitzen auch selbst ein Händchen für die Landwirtschaft. Außerdem haben sie recht beachtliche Einnahmen aus Leasingabkommen mit Minen. Es geht ihnen also verhältnismäßig gut. Ich würde gern mal eines ihrer Dörfer besuchen, aber seit meinem Aufenthalt damals in Pine Ridge … nun ja, ich fühlte mich wie ein Verräter. Wie ein unerwünschter Eindringling. Man kann es ihnen nicht verübeln, dass sie unter sich bleiben wollen. Nur bringt in dem Fall weder die Haltung der einen Seite noch die der anderen irgendeinen Fortschritt.“
„Nathaniel erzählte etwas von einer wichtigen Position“, murmelte Josephine und nippte an ihrem Kaffee, der plötzlich nach nichts mehr schmeckte. „Wahrscheinlich meinte er den Stammesrat, in dem er sitzt.“
„Er sieht nicht aus wie jemand, der einen Posten an einem Schreibtisch einnimmt.“
„Nein.“
„Ach ja, falls es dich interessiert …“ Jacob zupfte neckisch an ihrem geflochtenen Zopf. Irgendwo unter seinem Bartwust erkannte sie ein vergnügtes Grinsen. „Die Crow galten und gelten noch immer als die schönsten Indianer überhaupt.“
„So?“ Josephine lächelte. Nathaniels Gesicht stand ihr vor Augen, gespenstisch erhellt vom Licht eines Blitzes und erinnernd an Zeiten, da dieses Volk der personifizierte Stolz gewesen sein musste. In seiner Erscheinung lag die verlorene Glorie vergangener Zeiten. So wie ihn würde man sich vermutlich den perfekten Krieger vorstellen. Stolz und unnahbar. So unnahbar, dass der Gedanke, ihm jemals nahezukommen, utopisch anmutete. Andererseits waren sie sich in der vergangenen Nacht zweifellos nähergekommen. Aber was hatten diese Momente für ihn bedeutet? Hatte auch er diese flüchtige Glückseligkeit gespürt oder warsie einfach nur naiv und sentimental?
„Sieh mal“, stieß Jacob Rauch ausblasend hervor. „Da ist er ja.“
„Wo?“ Josephine fuhr so abrupt auf, dass ihr Stuhl um ein Haar das Gleichgewicht verloren hätte. „Was hat er da? Einen Hirsch?“
„Sieht ganz so aus, als wäre seine Jagd erfolgreich gewesen. Besseres Fleisch als aus dem Wald bekommst du nirgends. Nur leider
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