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Nathaniels Seele

Titel: Nathaniels Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
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hat er sich umgezogen. Schade.“
    „Wie meinst du das?“
    „In dieser Tasche ist seine andere Kleidung. Die authentische Kluft, du weißt schon. Ich hätte sie gern mal gesehen.“
    „Wieso wundert mich das nicht? Ein antiker Bogen, antike Kleidung. Was noch? Magische Fähigkeiten?“
    „Vielleicht mag ich ihn gerade deswegen. Er baut meine verlorenen Illusionen wieder ein bisschen auf.“ Jacob zwinkerte ihr zu, schob seinen Stuhl an den Tisch und schlurfte zur offen stehenden Haustür hinaus.
    Josephine folgte ihm, allerdings nur bis zur Verandatreppe. Ungläubig sah sie zu, wie Nathaniel über die Wiese auf sie zukam. Er wirkte in einer Weise surreal, dass die Erinnerung an die vergangene Nacht wie ein Traum anmutete. Dieser Mann hatte mit ihr geredet? Hatte sie angelächelt und sie die Einsamkeit für kurze Momente vergessen lassen? Neben seinem Bogen, dem Köcher und einer fransenbesetzten Tasche schleppte er eine Art Trage aus Ästen. Ein erlegter Weißwedelhirsch war darauf gebunden. Als Jacob Nathaniel erreicht hatte, tauschten die beiden Männer nur wenige Worte aus. Josephine verstand nicht eines davon, wohl aber registrierte sie die düstere Miene des Indianers. Ohne ihr auch nur einen Blick zuzuwerfen, setzte er seinen Weg ohne die Trage fort, passierte den Korral und die Zufahrtsstraße und verschwand im Pferdestall.
    Jacob blieb mit hilfloser Miene zurück. Die Verlorenheit, mit der er mitten auf der Wiese stand, erschien Josephine allzu vertraut. Offenbar stürzte Nathaniel nicht nur sie in Verwirrung. Müde von ihrem zu langen Schlaf schlurfte sie zu dem alten Mann und besah sich den Hirsch. Lebendig waren diese Tiere zweifellos schöner anzusehen.
    „Was hat er gesagt?“
    Jacob zuckte die Schultern. „Nur, dass er uns gehört und wir ihn aufessen sollen.“
    „Du meinst den Hirsch?“
    Jacob prustete. „Natürlich.“
    „Also gut. Wie wäre es heute Mittag mit Gulasch? Das da ist mehr als genug für alle.“
    „Dann mach dich auf in die Küche.“
    „Ich? Nein, vergiss es. Es gibt noch jede Menge …“
    „Unsinn“, beharrte Jacob. „Du siehst noch ganz schön schlapp aus. Lass es heute mal gemütlich angehen. Geh in die Küche und mach dein Gulasch, ich kralle mir zwei Studenten, die mir helfen können. Ab jetzt. Keine Widerworte.“
    Josephine bleckte in halbherzigem Protest die Zähne. Ehe Jacob ihr diese Aufgabe abnehmen konnte, legte sie den Riemen der Trage um ihre Schulter. Offenbar hatte Nathaniel ihn aus Rindenstreifen selbst gedreht, ebenso, wie er die gesamte Transportvorrichtung auf die Schnelle gebaut haben musste. Natürlich, er hatte erwähnt, sehr ursprünglich aufgewachsen zu sein. Vermutlich aß er ausschließlich selbst erlegte oder gesammelte Nahrung, lebte ohne Strom, Fernseher oder sonstigen technischen Schnickschnack, verbrachte seine Nächte im Wald und verfügte über all die Kenntnisse, die der moderne Zivilisationsmensch längst vergessen hat. Gab es solche Exemplare noch unter den Indianern? Unter Menschen, denen ihre Traditionen bis in die neunzehnhundertsiebziger Jahre streng verboten worden waren? Vielleicht wollte er sie nur beeindrucken, oder er war wirklich so. Sie wusste es nicht.
    Josephine konnte nicht widerstehen. Nachdem sie einen Haufen Fleisch zu Würfeln zerschnitten, angebraten und in einen riesigen Topf befördert hatte, warf sie einen Blick aus dem Fenster. Von der Küche aus hatte man den Korral gut im Blick. Und was Josephine dort sah, ließ ihren Mund vor Verblüffung offen stehen.
    Nathaniel saß auf dem Rücken des ungesattelten Cremello. Mit völlig entblößtem Oberkörper und zu einem lockeren Zopf zusammengebundenen Haaren. Er ließ das Pferd im Kreis laufen und hielt das Gesicht in die Sonne, als sei ihm die Tatsache, etwas Verpöntes zu tun, nicht im Geringsten bewusst. Männer zeigten in diesen Breiten niemals ihren nackten Oberkörper, ganz gleich, wie warm es war oder ob der Schweiß in Strömen an ihnen herabrann.
    Diese Rothaut kümmerte sich offensichtlich nicht um solche Dogmen. Sein Genuss, die Sonne und den Wind auf seiner Haut zu spüren, war unübersehbar – eine Haut, die im Ton heller Bronze schimmerte und sich über gewölbte Muskeln spannte. Josephine beugte sich noch etwas weiter vor und stützte sich am Fensterrahmen ab. Nathaniels Körper war so, wie sie es sich ausgemalt hatte. Schlank und doch kraftvoll, geschaffen von einem ursprünglichen Leben. Der einzige Makel, den sie erkannte, waren Narben auf seinen

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