Nathaniels Seele
weigerte, würde sie ihn zwingen, seine Kraft mit ihr zu teilen.
Während er in den Sonnenstrahlen entspannte, dachte Nathaniel an seine verlorene Familie. Er dachte daran, dass mit Sicherheit Ärger bevorstand und er dachte an Josephine. Sie gehörte zu jener Sorte Menschen, vor der man ein Geheimnis nicht lange bewahren konnte. Früher oder später musste er sich ihr offenbaren, und Nathaniel bemerkte, wie verlockend ihm dieser Gedanke erschien. Eine Frau, vor der er seine Maske fallen lassen konnte. Eine Frau, die ihn so sah, wie er wirklich war. Er glaubte zu wissen, dass sie die Richtige war. Aber vollkommen sicher war Nathaniel nicht. Noch nicht.
„Tut mir leid.“
Josephine warf einen betroffenen Blick auf die Uhr. Es war halb zehn. Sie hatte den kompletten ersten Arbeitsgang verschlafen.
„Aber warum denn?“ Jacob saß gut gelaunt am Tisch und rauchte seine Pfeife. Dem Geruch und dem Grad seiner Verschmutzung nach zu urteilen, hatte er bereits alles, was mit den Ställen zusammenhing, erledigt. In seinem grauen Haarkranz baumelten zwei Strohhalme, ein weiterer hatte sich in seinem Bart eingenistet. „Dein Körper braucht den Schlaf. Nimm ihn dir einfach. Oder mach mal Urlaub, was meinst du?“
„Urlaub? Vergiss es. Nicht jetzt.“
„Das sagst du seit Jahren.“
„Ich kann nicht. Ich will nicht. Thema Ende.“
„Wie du meinst.“ Jacobs Blick wurde seltsam. Irgendwie verschwörerisch. „Was ist eigentlich mit deinem neuen Angestellten?“
„Was soll mit ihm sein?“
„Ich habe ihn heute Morgen getroffen. Er wollte jagen gehen. Hast du seinen Bogen gesehen? Ist der nicht unglaublich?“
„Er ist seltsam.“
„Was?“
„Ich meine Nathaniel. Er ist seltsam. Ich verstehe ihn nicht. Ich weiß nicht, wer er ist und warum er tut, was er tut. Er ist ein Rätsel für mich, und du weißt, dass ich so was nicht leiden kann. Immer dieses mysteriöse Getue. Was glaubt er eigentlich, werer ist? Können sich Männer wie er niemals klar und verständlich ausdrücken?“
„Wir können ihn gut gebrauchen“, gab Jacob zu bedenken. „Also vergraule ihn nicht. Und kratz ihm auch nicht die Augen aus.
„Ihr habt euch unterhalten?“
„Sehr kurz nur. Ich mag ihn, und du kennst mein Radar für niederträchtige Subjekte. Bei ihm schlug er nicht aus.“
„Der Kerl will nicht bezahlt werden.“ Sie goss Kaffee in ihre monströse silberne Tasse. Josephine fühlte sich unwohl in ihrer Haut. Und das, obwohl sie ihre zerfledderte Lieblingsjeans und ihr waldgrünes Lieblingshemd trug, das kein Waschmittel der Welt jemals wieder sauber bekommen würde „Er sagte, er brauche kein Geld. Ist das zu fassen? Wer zum Teufel braucht denn kein Geld?“
„Das hat er gesagt?“ Jacob zog bedächtig an seiner Pfeife und beobachtete Josephine, wie sie ihren Toast in Honig ertränkte. Er sinnierte eine Weile, tat schließlich durch ein Räuspern kund, dass er zu einer Antwort gekommen war, und ließ sich im Stuhl zurückfallen. „Ich war nur ein Mal in meinem Leben in einem Reservat. Es nannte sich Pine Ridge. Ein Freund von mir besuchte dort seinen Schwager, einen Lakota namens George. Ich hatte meine Illusionen. Die verklärten Vorstellungen eines Romantikers eben. Kein Wunder, dass mir die Wahrheit einen Schlag ins Gesicht verpasst hat. Ich erwartete in meiner Dummheit irgendetwas, das wenigstens ansatzweise meiner Fantasievorstellung entsprach. Aber was mich in Pine Ridge erwartete, war in erster Linie Trostlosigkeit. Die Menschen, die ich traf, hatten keine Perspektiven mehr. Ich spürte ihre Leere, ihre Resignation, irgendwo unter der Wirkung des Alkohols und der Drogen.“
„Moment“, unterbrach ihn Josephine. „Ist das Zeug in den Reservaten nicht verboten?“
„Klar. Aber man besorgt es sich eben außerhalb. Solche Regeln haben noch nie was genützt. Jedenfalls war ich zuerst wütend, weil die Enttäuschung so tief saß. Ich fragte mich, warum sich all diese Menschen so hängen ließen. Warum sie nichts taten, sondern einfach so in den Tag hineindämmerten.“
„Tja, deine Illusionen hatte ich auch mal. In sehr jungen Jahren.“ Josephines ohnehin nur rudimentär vorhandener Appetit löste sich in Luft auf. Resigniert ließ sie ihren Honigtoast auf den Teller fallen und klammerte sich an der Kaffeetasse fest.
„Ihr Denken ist ganz anders, das muss man erst mal verstehen.“ Jacob starrte ins Leere. „Eine feste Arbeit, die sie Tag für Tag zum selben Ort und zur gleichen Tätigkeit führt,
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