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Nathaniels Seele

Titel: Nathaniels Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
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Wir alle müssen unserem Fluss folgen. Unserem Fluss des Lebens.“
    „Es ist nicht mein Fluss. Es ist deiner. Es geht seit Langem nur noch um dich. Waren es wirklich die Geister, die zu mir gesprochen haben? Oder warst du es? Komm mir nicht mit deinem Süßholzgeraspel. Wenn du irgendwann mal Werte hattest, sind sie zusammen mit deinem Gehirn längst verwest.“
    „Es ging immer nur um unser Volk“ schnarrte die Alte.
    „Weißt du was? Such dir jemandem, dem es gefällt, dein Spielzeug zu sein. Ich habe es satt. Finde jemanden und dreh ihm den Hals um, damit ich endlich meine Ruhe vor dir und deinen Griffeln habe.“
    Die Schamanin bleckte gelbbraune Zähne. „Das hätte ich längst getan. Aber es wird niemanden mehr geben wie dich.“
    Ihre Stimme wehte ekelhaft liebkosend durch seinen Geist. Dann verblasste die über ihm kauernde Gestalt. Leben kehrte in seine Glieder zurück, doch als Nathaniel nach der dürren Kehle der Alten griff, schlossen sich seine Finger um verschwimmenden Nebel. Abrupt fuhr er auf. Wie immer, wenn sie ihn in der Zwischenwelt berührte, brannte seine Haut wie Feuer. Hektisch rieb er über die roten, von vier blutenden Kratzern durchzogenen Male, ohne dass es ihm Linderung verschaffte. Irgendwann würde das Brennen vergehen, aber manchmal dauerte es Stunden. Oder sogar Tage.
    Ein Miauen erklang. Neben den Strohballen hockte Josephines schwarze Katze, thronend auf ihrem Hinterteil. Ihre gesträubten Rückenhaare begannen zaghaft, sich wieder zu glätten. Katzen hassten Absá. Aber gab es irgendein Geschöpf, das sie nicht hasste? Jener Ort im Wald, an den sie sich vor Jahrzehnten zurückgezogen hatte, war bar jeden Lebens. Abgesehen von ein paar Schaben und Aasfressern.
    „Suchst du einen Platz zum Schlafen?“ Nathaniel kraulte den pelzigen Kopf des Tieres. „Tut mir leid, aber damit kann ich nicht dienen. Nächstes Mal vielleicht.“
    Getrieben von Zorn rollte er das Plaid zusammen und kehrte zurück in die Wohnung. Schlaf würde er in dieser Nacht keinen mehr finden, doch die Morgendämmerung stand ohnehin kurz bevor. Fluchend zog er ein schwarzes T-Shirt und eine Jeans ausseinem Seesack, schlüpfte hinein und schulterte die Wildledertasche, in der sich seine kostbarsten Kleider befanden. Kleider aus seinem Leben als Prärienomade, denen zahllose Erinnerungen anhafteten.
    „Eines Tages …“, knurrte er. „Eines Tages verlierst du deine Macht über mich. Und dann wirst du für alles bezahlen.“
    Unheilschwangere Stille antwortete ihm. Er wusste, dass sie seine Worte hörte. Und er wusste, dass Gefahr auf ihn zukam. Doch auf welche Weise und in welcher Gestalt diese Gefahr erscheinen würde, blieb ihm verborgen. Betraf es sein Volk? Betraf es nur ihn oder vielleicht jene Frau, deren Nähe seine Stärke in Verwirrung verwandelte?
    Nathaniel lächelte, als er den Köcher schulterte und seinen Bogen aus dem Futteral zog. Wie immer, wenn er seine alten Waffen nahm, durchströmten ihn wunderbare, glückliche Erinnerungen, die ihm niemand nehmen konnte. Seine Gedanken verweilten bei den herbstlichen Bisonjagden, beim Anblick der Hügel, die sich in Tönen aus Braun und Gold bis zum Horizont hinzogen und so weit waren, das man sich erzählt hatte, man könne ein fliehendes Pferd noch nach Tagen am Horizont entdecken. Er dachte an den Rauch der abendlichen Feuer, an denen sie gesessen und von ihren Leben erzählt hatten. Von Legenden, Ruhm und Ehre. Von ihrer Art, zu leben und ihrer Art, zu sterben. In einem anderen Leben wäre er vielleicht an der Seite seiner Frau alt geworden. Er hätte seine Enkel auf dem Schoß gehalten und ihnen beim Anblick der Sterne die Geschichten seines Volkes erzählt, die seine Enkel wiederum ihren Kindern und Kindeskindern erzählt hätten.
    Aber alles, was übrig geblieben war, war er selbst. Ein lebendes Relikt aus einer untergegangenen Zeit.
    Behutsam, um den schlafenden Hund nicht zu wecken, der sonst penetrant auf seine Teilnahme an der Jagd bestanden hätte, schlich Nathaniel hinunter in den Stall und öffnete das Schiebetor. Über den nebelverhangenen Wäldern graute der Morgen. Tiefblau leuchtete der Himmel, geschmückt von den letzten Sternen. Nathaniel streckte sich und atmete genüsslich die frische Luft ein, so, wie er es seit gefühlten Ewigkeiten an jedem Morgen tat. Wäre er allein in seinem Haus gewesen, so hätte er sich auf die Veranda gesetzt und seinen Morgengesang angestimmt. Aber er wusste, dass es heutzutage als seltsam angesehen

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