Nathaniels Seele
Himmel ragten. In diesem Dickicht kniete sie nieder. Feuchte, fruchtbar duftende Erde durchnässte ihre Hose, doch sie ignorierte es. Vorsichtig schob sie die Wedel auseinander, um einen Blick auf das zu erhaschen, was unter ihr geschah.
Nathaniel kniete vor einem Lagerfeuer. Seine Hände waren locker im Schoß verschränkt, doch etwas Unterschwelliges an seiner Haltung verriet Anspannung. Selbst aus der Entfernung hätte Josephine schwören können, dass er zitterte. Vor ihm stand eine Schale, in die er seine Finger tauchte. Etwas Dunkles haftete ihnen an, als er sie zurückzog. War das etwa Blut?
Nonames Blut?
Nathaniel schloss die Augen und malte zwei vertikale Linien auf seine Wangen. Flammenschein und Schatten krochen über sein Gesicht, dem die Farbe eine wilde, nicht in diese Zeit passende Ursprünglichkeit verlieh. Als er begann, sein Hemd aufzuknöpfen, vergaß Josephine ihre Vorsicht. Sie schob die Farnwedel weiter auseinander und beugte sich so weit vor, wie es ihre verletzliche Balance zuließ. Scharfe Steine bohrten sich in die Kniescheiben. Sie spürte es kaum, denn jetzt legte Nathaniel seine trügerische Maske ab. Wütend riss er sich das Hemd vom Leib und warf es beiseite. Feuerschein ergoss sich über bronzefarbene Haut, spielte auf angespannten, wie gemeißelt hervortretenden Muskeln.
Was tat er da? Was trieb er mitten in der Nacht auf ihrem Land, das sie nicht sehen durfte?
Wieder tauchte Nathaniel seine Finger in die Schale, um diesmal zehn dunkle Linien über seine Brust zu ziehen. Als seine Hände in Höhe des unteren Rippenbogens zitternd innehielten, sackte er nach vorn. Sie hörte ihn keuchen. Eine Weile bewegte er sich nicht, sondern erstarrte zu einer verkrampften Statue. Dann schien ein Stromschlag durch seinen Körper zu jagen. Unvermittelt fuhr er hoch, nach Atem ringend und von offensichtlichem Schmerz erfüllt. Zu Klauen gekrümmte Finger gruben sich in die Erde, zuckten hoch und wühlten sich in sein Haar. Wieder und wieder schüttelte Nathaniel den Kopf, als wolle er dunkle Schatten aus seinen Gedanken vertreiben. Als kämpfe er gegen etwas, das allein in seiner Wahrnehmung existierte. Er stöhnte auf, zog eine zweite, messingfarben glänzende Schale zu sich heran und murmelte etwas, das Josephine aus dieser Entfernung unmöglich verstehen konnte. Hastig griff er in seine Tasche, nahm etwas heraus, das wie ein Fächer aus Federn aussah, und legte ihn in seinen Schoß. Anschließend holte er etwas aus einem Beutel, streute es in die Messingschale und sank, als bleiche Rauchkringel aufstiegen, in sich zusammen.
Josephine bereute, sich niemals mit der indianischen Kultur auseinandergesetzt zu haben. Vielleicht hätte sie sonst gewusst, was für ein Ritual sie da beobachtete. Was er tat und warum. So aber wuchs ihre Verwirrung, während Nathaniel den aufsteigenden Rauch mithilfe des Fächers über seinen Körper verteilte. Er begann zu singen. Es war ein monotones Lied, dessen immer wiederkehrende Melodie etwas Hypnotisches besaß und wie ein schleichend wirkendes Gift durch ihre Sinne kroch. Tastend,sich festsetzend, an ihren Gedanken saugend. Wenn er nur lange genug sang, würde sie vielleicht vergessen, warum sie hier war. Sie würde aufstehen und zu ihm gehen. Dem Wunsch folgen, ihm nah zu sein. Ihm zuzuhören. Sie würde sich einspinnen lassen in einem Netz, das ihr hier und jetzt, im Licht des Mondes, unwiderstehlich erschien. Josephine fürchtete sich, und doch durchdrang sie eine tiefe Ruhe, die von Nathaniels Lied ausging. Sie stellte sich vor, wie es in vergangenen Zeiten Kranke und Trauernde getröstet hatte. Wie es die Angst eines Volkes gelindert und ihnen verlorene Träume zurückgegeben hatte.
Warum kamen ihr solche Gedanken? Warum fühlte sie sich plötzlich so … anders? Der Wirklichkeit entrückt? Fühlender, lebendiger?
Gerade, als die Melodie das Zittern aus ihrem Körper gesaugt hatte, endete das Lied. Nathaniel warf den Fächer beiseite, stieß die Messingschale um und sprang auf. Ein zorniger Schrei hallte durch den Wald. Er zog einen brennenden Ast aus dem Feuer, wirbelte ihn herum und schlug ihn gegen eine Tanne. Kaskaden aus Funken flogen durch die Dunkelheit, rieselten auf den ausgedörrten Waldboden und setzten ihn in Brand. Josephine wollte aufspringen, doch die Lähmung, die ihren Körper erfüllte, war nicht abzuschütteln. Dieser Wahnsinnige würde alles niederbrennen. Der Wald war ausgetrocknet, ausgedörrt, ein Festmahl für jeden Funken.
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