Nathaniels Seele
zu Jacob zu gelangen, war zwingend der Pferdestall zu durchqueren. Und sie musste Nathaniels Wohnung passieren. Möglicherweise lauerte er dort auf sie, bereit, die unliebsame Zeugin seines Treibens auszulöschen. Schließlich, nach ein paar Minuten, in denen Josephine das Für und Wider jeder möglichen Variante ihres Handelns abgewogen hatte, gewannen Wut und Trotz die Oberhand. Ihre Hand legte sich auf die Messerscheide, die noch immer in ihrem Hosenbund steckte. Dann stand sieauf und machte sich auf den Weg zum Stall.
So leise wie möglich öffnete sie die Schiebetür. Ihr Herz schien irgendwo in Höhe der Kehle zu klopfen. Es geriet aus dem Takt, als sich das Dunkel des Stalls vor ihr öffnete, setzte einen Schlag aus, als sie Nathaniel auf zwei Strohballen liegen sah – und nahm seinen Rhythmus wieder auf, als ihr bewusst wurde, dass ein schwarzes Bündel auf seiner Brust ruhte.
Noname. Quicklebendig und selig schnurrend.
Josephines Verstand, dem das übliche Schema gänzlich entrissen worden war, stellte sich stur. Sie stand da, fassungslos, und konnte weder Erleichterung noch Freude empfinden. Leise trat sie näher. Durch das Fenster, das sich über den aufgestapelten Strohballen befand, ergoss sich fahler Mondschein in den Stall. Es hüllte Nathaniel und den Kater ein, als wolle es sie in ihrem Schlaf mit einer weichen Hülle aus Licht beschützen.
Noname lebte.
Nathaniel war unschuldig. Wenigstens in dieser Hinsicht.
Erleichterung durchdrang zaghaft Josephines Konfusion. Sie wuchs und wuchs, bis es all ihre Beherrschung erforderte, sich nicht auf den Schlafenden zu stürzen und atemlose Entschuldigungen zu murmeln. Wie friedlich die beiden wirkten. So friedlich, dass all die blutrünstigen, von Angst geprägten Gedanken der vergangenen Stunden idiotisch anmuteten. Nathaniel hatte das Plaid vom Sofa auf dem Stroh ausgebreitet und eine der braunen, alten Stalldecken über sich gelegt. Trotz der Wärme der Nacht war sie bis an seinen Hals hochgezogen. Sie sah die Atembewegungen seines Brustkorbs, die Hände, die sich behutsam um den Kater gelegt hatten, und jenes Zucken der Lider, das von Träumen kündete.
Ein mörderischer Geisteskranker … wie hatte sie das von ihm denken können? Doch was er im Wald getrieben hatte, war seltsam gewesen. Seltsam, aber gewiss erklärbar. Die Augen täuschten und narrten den Geist in vollendeter Perfektion. Sie waren der Sinn, auf den am wenigsten Verlass war. Ihre Angst war es gewesen, die seinem Gesicht die Maske eines Dämons verliehen hatte. Ihre Angst, das Licht des Feuers, die Nacht … ihre Fantasie.
„Es tut mir leid“, flüsterte Josephine.
Sie kniete nieder, nahm das Messer in die linke Hand und griff nach einer Strähne seines Haares, um sie zwischen Zeige- und Mittelfinger hindurchgleiten zu lassen. Es war schwer, aber weich. Sehr viel weicher als Daniels blonde Stoppeln. Ehe sie wusste, wie ihr geschah, beugte sie sich hinab und roch daran. Sie nahm den Duft von Salbei wahr. Das war es also, was er in die Schale gestreut hatte. Getrockneter Salbei.
Beklommen wich sie zurück. Wieder nahm ihr Herz seinen unregelmäßigen Rhythmus auf, doch hier und jetzt war der Grund ein anderer. Ungläubig studierte Josephine den Mann, der schlafend vor ihr lag. Sein schmales, vornehmes Gesicht, dessen Züge der Inbegriff von Harmonie waren. Seine sanften Hände, die sich im Fell des Katers vergraben hatten. Die Linien seines Halses und seines Kiefers. Das tiefschwarze Haar, dessen Strähnen sich über das Stroh ergossen. War er ihr zuvor noch kalt und finster erschienen, so erfüllte ihn nun eine warme, sanfte Stille. Jede Strenge war aus seinen Zügen gewichen. Jetzt, da sie sich im Schlaf entspannt hatten, hüllten sie sein Gesicht in die Schönheit eines Heiligen.
Josephine zog ihre Hand zurück, nur um sie noch einmal auszustrecken und dicht über seiner Stirn schweben zu lassen. Was würde Daniel sagen, wenn er sie sehen könnte? Im Dunkeln kniend vor einem Mann, atemlos, mit klopfendem Herzen. Wenn er wüsste, dass sie von dem Anblick dieses Pferdeflüsterers gefesselt war – auf eine erregende, prickelnde Weise, die Daniel niemals in ihr ausgelöst hatte? Sie stellte sich vor, ihn zu küssen, und es war schwer, dieser Versuchung zu widerstehen. Für ihn mochte alles nur ein Spiel sein, eine flüchtige Vergnügung, deren Reiz ihm nicht mehr bedeutete als einem Jäger die Erlegung seiner Beute. Josephine aber schmeckte Abenteuer auf der Zunge. Das und mehr.
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