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Nathaniels Seele

Titel: Nathaniels Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
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Sie fühlte sich wie eine Frau, die sich dem schlafenden Wildtier näherte, um es einmal im Leben berühren zu können.
    „Schscht!“, machte Josephine, als sie sah, dass Noname erwachte. „Bleib einfach liegen, okay?“
    Der Gedanke, Nathaniel könnte sie hier sehen, aufgelöst und errötet bis über beide Ohren, ließ sie schaudern. Was hätte sie ihm sagen sollen? Dass sie einem dummen Irrtum aufgesessen war und nach wie vor in völliger Konfusion gefangen war? Oh ja, sein triumphierendes Grinsen stand ihr bereits jetzt vor Augen. Josephine wollte sich ungesehen zurückziehen, doch im Moment ihres Aufstehens stemmte sich auch Noname hoch. Er gähnte, buckelte und beugte sich über Nathaniel, um mit ganzem Körpereinsatz einen Nieser loszulassen. Die Salve kleiner Tropfen traf zielgenau das Gesicht des Schlafenden.
    „Blödes Vieh“, zischte Josephine. „Du blödes, blödes Vieh.“
    Sie fuhr herum und spurtete zum Ausgang, doch ehe sie die Tür erreicht hatte, erklang hinter ihr eine dunkle, vom Schlaf kratzige Stimme.
    „Warum so hastig?“
    „Ich …“ Sie fuhr abrupt herum. „Ich … ähm …“
    „Ja?“
    Nathaniel war aufgestanden und wischte sich die Tropfen vom Gesicht. Er trug nichts als schwarze Boxershorts und seinen Talisman. Im Mondschein erweckte seine Haut die Illusion, als bestünde sie aus poliertem, kupferfarbenem Holz. Gähnend kratzte er sich den vom Schlaf zerzausten Kopf.
    „Wolltest du mich etwa abstechen?“, bemerkte er amüsiert. „Aus lauter Wut, dass ich deine Katze abgeschlachtet habe?“
    Seine Stimme war milde, doch sie spürte den Vorwurf dahinter. Er deutete auf das Messer, das noch immer in Josephine Hand lag. „Nein.“ Erschreckt ließ sie es fallen. „Ich … es tut mir leid.“
    „Ich würde so etwas niemals tun. Verstanden?“
    „Ich weiß.“
    „Nein.“ Nathaniel blickte dem Kater hinterher, der mit hochmütig erhobenem Kopf aus dem Stall stolzierte. „Du dachtest,ich hätte ihn getötet. Ich habe die Bilder in deinem Kopf gesehen.“
    „Die Bilder in meinem Kopf?“, echote Josephine. „Da waren keine Bilder. Abgesehen davon hast du nichts getan, um mir die Idee auszureden. Wie war noch mal deine Antwort: Welcher Teil vom Kater? Danke auch. Das war genau das, was ich in dem Moment gebraucht habe.“
    „Ich war wütend.“
    „Warum?“
    „Weil ich für dich schuldig war. Du bist bis über beide Ohren voll mit Vorurteilen, weißt du das? Genau wie die meisten anderen. Ihr folgt dem Prinzip der geteilten Meinung. Die Medien geben euch die Meinung vor, und ihr teilt sie.“
    „Siehst du etwa fern?“
    „Nicht, wenn ich es verhindern kann. Willst du wissen, was wirklich passiert ist? Irgendwer hat den Kater in der Gerätekammer eingesperrt.“
    Josephines Mund klappte auf. Die Tür … ja … sie hatte sie irgendwann heute Morgen gedankenlos zugeschlagen. Nathaniel hatte recht, was sie betraf. Beschämt starrte sie zu Boden und war froh, beim nächsten Aufblicken die Narben auf seiner Brust studieren zu können. Es waren sechs senkrechte, parallel verlaufende Male, drei auf der linken und drei auf der rechten Seite.
    „Macht ihr das etwa immer noch?“, flüsterte sie schaudernd.
    „Du meinst den Sonnentanz?“
    „Ja. Das ist barbarisch.“
    Nathaniel zuckte die Schultern. „Nur, weil du es nicht verstehst.“
    „Ihr bohrt euch Stöcke durch die Brustmuskeln, zerrt vier Tage lang daran herum und reißt sie euch am Ende raus. Was soll man daran verstehen können? Macht es euch Freude, zu leiden? Wollt ihr euch gegenseitig was beweisen?“
    „Es geht nicht einfach nur um das Leiden.“ Er hob belustigt eine Augenbraue. „Es ist eine Reinigung, eine Visionssuche. Der Sonnentanz gehört zu unseren sieben heiligen Riten. In dem todesähnlichen Zustand, den man währenddessen erreicht, erweitert sich unser Bewusstsein. Wir bekommen Visionen und Antworten auf wichtige Lebensfragen. Wir sehen die Wege, die wir beschreiten müssen. Und wir erfahren das Geheimnis von Blut und Schmerz.“
    „Genau solchen Quatsch meine ich. Was soll das?“
    Die aufgewölbten Narben auf seiner Haut pflanzten das Bild sich dehnenden und reißenden Fleisches in ihren Kopf. Das Ausmaß der Qual lag vermutlich jenseits ihrer Vorstellungskraft, und doch besaß der Gedanke eine düstere, wilde Verführungskraft. Sie kam nicht umhin, Nathaniel anzustarren und sich auszumalen, wie er an diesen Fesseln hing. Blutend, entrückt, in Welten aufgestiegen, die sie niemals verstehen

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