Nathaniels Seele

Titel: Nathaniels Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß

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mehr als Menschen, die sich unter seinem Blick in Panik auflösten. Das wunderbare Recht des Stärkeren. Uralt und bewährt seit der Steinzeit.
    „Was schlagen Sie jetzt vor, Sir?“, wagte Jorge zu fragen.
    „Ich schlage vor, dass ihr dorthin zurückgeht, wo man auf euch geschossen hat. Offenbar beschützt jemand das Grab.“
    Mario wurde bleich. „Aber was, wenn man wieder auf uns schießt?“
    „Dann schießt ihr zurück. Das alte Spiel. Knarren gegen Pfeil und Bogen. Sollte euer Mut nicht ausreichen, sagt es. In dem Fall kümmere ich mich darum, dass jemand anderes eure Posten einnimmt.“
    „Das wird nicht nötig sein, Sir.“
    „Sehr gut. Also bewegt eure Ärsche heute Nacht zurück an die entsprechende Stelle und sucht weiter.“
    „Wonach genau suchen wir überhaupt?“ Mario wischte sich mit dem Jackettärmel über das schweißnasse Gesicht. Hätte er am Hintern einen Schwanz besessen, würde er ihn wie ein Omegarüde zwischen die Beine klemmen und winseln. Der Anwalt erlaubte sich ob dieser Vorstellung ein amüsiertes Grunzen.
    „Nach der Büchse der Pandora“, erwiderte er. „Nach dem Heiligen Gral. Ihr wisst schon.“
    Mario kratzte sich am Hinterkopf. Seit er sein Haar blond gefärbt hatte, erinnerte sein Anblick an einen exotischen Affen. „Unsere Suche wäre effektiver, wenn wir wüssten, wie das Gefäß aussieht.“
    „Ihr wollt also alles wissen, was ich weiß?“, säuselte der Anwalt mit sanftem Lächeln.
    „Ja.“
    Mario und Jorge erschien dieses Lächeln wie ein Todesbote. Sie sahen ihn so selten lächeln, dass ihnen jedes Mal das Herz in die Hose rutschte. Denn sein Humor war stets schwarz. Tiefschwarz. Mitunter sogar tödlich.
    „Gut.“ Der Anwalt lehnte sich zurück und strich über die Federn des Pfeiles. „Dann will ich euch von der Legende erzählen. Sie handelt von einem alten Crow-Schamanen namens Woksapa. Er lebte vor sehr langer Zeit, und obwohl damals noch niemand ahnen konnte, was einst mit seinem Volk geschehen würde, kannte Woksapa sein Schicksal. Man sagt, er sei einer der ersten Menschen gewesen. Ein Gott, dessen schöpferische Kräfte grenzenlos waren. Ein weiser Lehrer soll er gewesen sein, ein ruheloser Wanderer und, wenn es nötig war, ein gnadenloser Kämpfer für das Wohl seines Volkes. Eine Version der Legende behauptet, er habe Jahrtausende durchlebt, eine andere nennt ein genaueres Alter. Fünfhundertachtzig Monde soll er gelebt haben, bevor irgendetwas ihn dahinraffte. Woksapa spürte seinen Tod natürlich nahen und versprach seiner Gefährtin, einer Schamanin namens Absá, dass seine schützende Hand stets über seinem Volk liegen würde, selbst wenn er nicht mehr unter ihnen weilte. Er gab ihr, bevor er starb, das Wunder der ewigen Jugend und die Fähigkeit, über ein Gefäß zu herrschen. Ein Gefäß, das Woksapas Geist nach seinem Tod in sich aufnahm.“
    „Das ist es also“, murmelte Jorge. „Aber warum glauben Sie, dass diese Legende wahr sein könnte?“
    „Haben Sie schon mal aus vielen Einzelteilen ein Puzzle zusammengesetzt?“, fragte der Anwalt.
    „Sir?“
    „Wenn Sie sich ein wenig mit der Geschichte der Crow auskennen würden, dann wäre Ihnen aufgefallen, dass all die Jahrhunderte eine Art Schutz über diesem Stamm lag. Das Schicksal verschonte sie zwar nicht, aber es ging bemerkenswert sanft mit ihnen um. Es erging ihnen besser als allen anderen Stämmen, sie wurden von der zerstörerischen Macht des Alkohols verschont und ließen sich von niemandem übers Ohr hauen. Dieser Schutz besteht bis heute. Stellen Sie sich zwei Felsen vor. Einer ist der Brandung schutzlos ausgeliefert und wird abgetragen. Er fällt in sich zusammen. Der andere aber steht geschützt in einer Bucht. Die Wellen zehren nur schwach an ihm, ohne ihre zerstörerische Kraft ganz entfalten zu können. Irgendwann wird natürlich auch dieser Felsen fallen, aber sein Ende liegt in weiter Ferne.“
    „Das ist noch kein Beweis“, bemängelte Jorge. „Vielleicht waren die Crow einfach gerissener als andere.“
    „Nein, ein Beweis ist das noch nicht. Aber jene Puzzleteilchen, von denen ich sprach, sind es sehr wohl. Ich habe von todkranken Crow gehört, die das Dorf aufsuchten, von dem ich euch erzählt habe. Sie gesundeten auf unerklärliche Weise. Weiße Jäger kamen aus den Wäldern des Reservatslandes zurück und waren wie ausgewechselt. Sie erinnerten sich an nichts, weder was ihnen widerfahren war noch wie sie an die Orte gekommen waren, an denen sie die