Nathaniels Seele
Josephine ballte die linke Hand zur Faust und biss sich auf die Fingerknöchel, um durch den Schmerz klar zu werden. Doch dann sah sie etwas Unerklärliches. All die kleinen Feuer, die ausbrachen, erloschen, kaum dass sie aufgeflackert waren. Bald erhoben sich zwei Dutzend zarte Rauchsäulen in die Dunkelheit, wanden sich dem Sternenhimmel entgegen und verwehten zwischen den Ästen der Tannen.
Erneut hallte ein gequälter Schrei durch die Nacht. Nathaniel schwang den brennenden Ast über seinem Kopf. Wutentbrannt ließ er ihn ein weiteres Mal gegen einen Baum krachen, fuhr herum und bewegte sich, als kämpfe er mit einem imaginären Feind. Surreale Muster, gemalt vom glühenden Holz, leuchteten in der Finsternis und hüllten seinen Körper in einen feurigen Schein. Dieser Mann schien kein Mensch mehr zu sein, sondern ein Dämon. Ein entfesseltes, zorniges Geschöpf, dessen Hass jeden, der von ihm getroffen wurde, unweigerlich töten musste. Schließlich, beim vierten Schlag, zerbrach das Holz Funken sprühend. Nathaniel warf den Stumpf weg und sackte zu Boden. Seine harten, verkrampften Muskeln zuckten. Wieder grub er die Finger in die Erde und verharrte still. Zwei Sekunden, drei. Jeder Herzschlag dehnte sich zu einer Ewigkeit. Als er hochfuhr, durchdrang sein Blick die Dunkelheit und fixierte Josephine. Er wusste, dass sie hier war. Er hatte sie entdeckt.
Wie war das möglich? Sie war still gewesen. Vollkommen still.
Strom floss durch ihren Körper, ausgelöst von der Berührung seines Blickes. Es war eine flammend heiße Kraft, die sie mit voller Wucht traf. Es war nichts Menschliches. Nichts an Nathaniel erschien menschlich. Seine Augen waren verschlingende Abgründe, sein Gesicht unter den Streifen aus Blut starr und verzerrt.
Lauf!
, schrie ihre Vernunft.
Lauf weg! Lauf schon!
Etwas in ihrem Inneren schien zu zerreißen, als sie aufsprang. Doch Josephine rannte. Sie rannte, bis ihr Atem verdorrte und wilder Schmerz in ihren Rippen ausbrach.
Nur Sekunden später, so erschien es ihr, flog scheppernd die Haustür hinter ihr zu. Keuchend schloss sie ab, fiel auf das Sofa nieder und wusste kaum, wie sie hierhergekommen war. Ihr Herz raste derart, dass es sich anfühlte, als müsse es jeden Augenblick kapitulieren. Was war das gewesen? Wer war er? Was war er? Der Rest ihres klaren Bewusstseins schrie danach, die Polizei zu rufen, doch irgendeine andere Stimme hielt sie davon ab. Josephine lauschte ihrem Herzschlag und dem Ticken der Uhr. „Steh auf, murmelte sie. „Steh auf. Steh auf. Steh schon auf. Los.“
Schwankend gehorchte sie ihrem Befehl, taumelte zum Sideboard und hob den Hörer des altmodischen Telefons ab. Nichts. Kein Freizeichen. Es geschah oft, dass dieses Ding tot war. Ungefähr so oft, wie der Strom ausfiel. Doch dass es ausgerechnet jetzt geschah, erfüllte Josephine mit blankem Entsetzen. Vielleicht hatte Nathaniel dafür gesorgt. Vielleicht hatte er sich nur aus einem Grund bereit erklärt, kostenlos hier zu arbeiten. Um sie nacheinander für seine Rituale zu opfern. Erst die Katze, dann die Menschen. Letztens hatte sie eine Geschichte in der Zeitung gelesen, die ganz ähnlich verlaufen war. Unwirklich in ihrem Schrecken, aber bewiesenermaßen wahr.
„Jacob.“ Josephine schwankte zum Sofa zurück. „Ich sollte … Jacob …“
Zu ihm zu gehen, wäre das Vernünftigste. Und doch fiel sie schwer wie ein Stein zwischen die Kissen. Bilder tanzten vor ihrem geistigen Auge einen wilden, martialischen Reigen. Das Feuer, die sprühenden Funken, Rauchsäulen. Nathaniels nackter, blutverschmierter Oberkörper. Sein Gesicht. Dämonisch, hasserfüllt und finster. Für Momente so unmenschlich, als wäre die Maske vor seinem wahren Wesen gelüftet worden.
Er hat Noname ermordet
, beharrte Josephines Angst. Doch ihre Vernunft entgegnete:
niemals. Erinnere dich, wie er mit den Pferden umgegangen ist. Du hast es gesehen. Sanftmut. Geduld. Zärtlichkeit
.
Es passte nicht zusammen. Wer war er? Wer zum Teufel war dieser Mann?
Träge tickend rückte der Zeiger der Uhr vor. Zehn, halb elf, elf…
Als es auf halb zwölf zuging, fiel die Paralyse Schicht für Schicht von Josephine ab. Ihre Gedanken klärten sich. Als ihr bewusst wurde, wie lange sie hier gesessen hatte, bewegungslos ins Leere starrend, hätte sie sich ohrfeigen können. Falls Nathaniel tatsächlich gefährlich war und die Katze getötet hatte – wie konnte sie dann untätig herumsitzen? Sie musste etwas tun. Irgendetwas.
Aber was?
Um
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