Nathaniels Seele
zusammengebissenen Zähnen hervor. „Du verdammter Antichrist.“
Sie rannte zum Haus zurück, tauschte ihr Hemd gegen einen braunen Pullover und steckte ein Messer in den Hosenbund. Wutschnaubend nahm sie die Verfolgung auf. Sie musste wissen, was dieser Kerl da draußen trieb, auch wenn der Anblick ihr möglicherweise den Rest geben würde. Sie musste es wissen. Dies hier war ihre Farm, ihr Land. Und wer immer sich darauf befand, unterlag allein ihren Regeln. Niemand gab ihr Befehle. Absolut niemand.
Great Falls, Montana
Der Anwalt ließ die beiden Moqui Marble-Steine zwischen seinen Fingern herumrollen. Inzwischen hatten sie die Hitze seiner Haut gespeichert und fühlten sich beinahe lebendig an. Der Morgen gestaltete sich ungewöhnlich ruhig. Es gab keine Anrufe, keine Akten, keine Fristen. Seine Sekretärin glänzte durch Abwesenheit und das Ticken der italienischen Standuhr sowie das Knirschen seines Ledersessels waren die einzigen Geräusche, die die Stille des riesigen Raumes milderten. Mürrisch drehte der Anwalt die Steine zwischen seinen Fingern und blickte auf den Missouri River hinab. Seine schäumenden Kaskaden, mit denen er innerhalb der Stadtgrenzen ganze einhundertfünfzig Meter Höhenunterschied überwand, hatten diesem Ort seinen Namen verliehen und sorgten für eine spektakuläre Aussicht, sofern der Fluss nicht gerade dank der Wasserkraftwerke trockengelegt war. Strudel glitzerten im Sonnenlicht, Regenbögen tanzten in der Gischt. Ein herrlicher Sommertag ließ die Stadt zu seinen Füßen erstrahlen, doch der Anwalt befand sich nicht in der Stimmung, diesen Umstand zu würdigen. Es war bereits nach zehn. Wo zum Teufel blieben Mario und Jorge?
„Nichtsnutzige Idioten“, fauchte er und stellte seine Tasse in die Espressomaschine. Ratternd füllte das Gerät nach Knopfdruck tiefschwarze Brühe hinein. Idioten waren Mario und Jorge zweifellos, aber sie waren zugleich manipulierbar und damit vertrauenswürdig. Was brachten schlaue Köpfe, wenn sie ihm früher oder später die Knarre an den Kopf hielten und den Spieß umdrehten? Bisher war ihm noch kein Mensch begegnet, der gerissen und ergeben zugleich war. Ob es solche Menschen überhaupt gab? Aber was erforderte es schon für eine Intelligenz, ein nicht sonderlich großes Waldstück nach einem Grab abzusuchen?
„Sir?“ Um halb elf öffnete sich die Tür endlich. Marge, seine Chefsekretärin, steckte ihren blond gelockten Kopf durch den Spalt. „Die Herren sind eingetroffen.“
„Rein mit ihnen.“ Sein Herzschlag beschleunigte sich. Als ihm der Schweiß ausbrach, legte er die Moqui Marbles zurück auf den Tisch und verschränkte seine zitternden Hände im Schoß. Hoffnung durchflutete ihn.
„Guten Morgen, Sir.“
Mario trat ein, gefolgt von seinem Bruder Jorge. Die grauen, akkuraten Anzüge der Italiener täuschten nicht darüber hinweg, dass beide Männer in Schweiß gebadet waren. Ihre Augen waren umgeben von dunklen Rändern, ihre Haare zerzaust. Noch ehe einer der beiden etwas zum Ergebnis der Suche sagen konnte, wusste der Anwalt bereits, dass es erneut nichts zu berichten gab. Ein Fluch lag ihm auf den Lippen. Ganz gewiss wäre er ihn brüllend losgeworden, hätte er nicht, gerade als er den Mund aufklappte und Atem holte, den Pfeil in Marios Hand entdeckt.
„Was ist das?“, fauchte er. „Zeig her.“
Bebend vor Angst überreichte der Mann das rot befiederte Geschoss. Andächtig strich der Anwalt über das vom Alter verdunkelte Holz des Schaftes. Es war von Rillen durchzogen. Rillen, durch die das Blut des Opfers schnell abfloss. Er musste unbedingt jemanden finden, der ihm sagen konnte, wie alt dieser Pfeil war.
„Ich will alles wissen“, murmelte er. „Was ist passiert?“
„Wir … ähm …“ Jorge verknotete seine schwitzenden Finger ineinander. „Wir haben leider nichts gefunden, Sir. Gar nichts. Aber jemand schoss den da auf uns ab.“
„Und warum, denkt ihr, wurde auf euch geschossen?“
„Weil …“ Jorge schluckte schwer. „Weil wir nah dran waren?“
„Meine Hochachtung. Ihr seid doch nicht ganz so dämlich, wie ihr ausseht. Zuerst hatte ich vor, eure nutzlosen Körper in einem Säurefass aufzulösen und mir bessere Handlanger zu suchen, aber jetzt sehe ich davon ab.“
Mario und Jorge tauschten schockierte Blicke aus. Das Rot ihrer Gesichter wurde noch tiefer. Zufrieden nahm der Anwalt zur Kenntnis, dass sie vergingen vor Angst. Oh ja, dergleichen liebte er. Nichts schmeichelte seinem Ego
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