Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Nathaniels Seele

Titel: Nathaniels Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Britta Strauß
Vom Netzwerk:
Besinnung wiederfanden. Eines aber hatten alle gemeinsam: Sie quatschten irgendwas von Erleuchtung. Von Erkenntnissen, Läuterungen und solchem esoterischem Schwachsinn. Plötzlich empfanden sie unerklärliche Abscheu gegenüber ihrem Hobby und weigerten sich standhaft, jemals wieder auch nur einen Fuß in diese Wälder zu setzen. Aber damit nicht genug. Ich weiß von einem jungen Mann, der sterbend in einem Hospiz lag. Er war einer meiner Mandanten. Der Stamm hatte ihn verstoßen, doch als er im Sterben lag, wurde er geläutert und bat um Vergebung. Man brachte ihn zurück nach Hause, und Wochen später fand ich heraus, dass der Krebs, der seinen Körper zerfressen hatte, restlos geheilt war. Im Übrigen drückt der Stammesrat des Reservats Verträge durch, die sich niemand, der klaren Verstandes ist, von den Indianern gefallen lassen würde. Ich habe zahllose Male versucht, den Dingen auf den Grund zu gehen, doch die Crow halten zusammen wie Pech und Schwefel. Überall stieß ich allerdings auf Woksapas Legende. Auf die Geschichte über jenes Gefäß, dessen Macht den Stamm seit Jahrhunderten beschützt. Eine Macht, die auf jeden übergeht, der es besitzt.“
    „Und wie soll dieses Gefäß aussehen?“, fragte Jorge zweifelnd.
    „Das weiß ich nicht.“
    „Was, wenn das Grab nur noch als Erdhügel zu erkennen ist? In dem Fall werden wir es niemals finden, denn der ganze Wald ist voller Hügel.“
    „Es wird Zeichen tragen“, blaffte der Anwalt zurück. „Es ist für die Crow ein Heiligtum. Es ist das Refugium, in dem Woksapas Körper und sein Gefäß ruht. Sie werden Talismane in den Bäumen aufgehängt haben. Auf dem Grab wird irgendetwas liegen. Sucht danach, verdammt noch mal.“
    „Vielleicht ist das Gefäß nicht mehr im Grab.“
    Marios Miene verriet, dass er die Legende ebenso wie sein Bruder für Unfug hielt. Dem Anwalt war es gleich. Diese Idioten mussten das Gefäß finden und nicht an dessen Magie glauben.
    „Die Legende besagt, dass es jedes Mal, wenn seine Kraft benutzt wurde, an den Ort seiner Ruhestätte zurückkehren muss. Wenn es also nicht dort ist, müssen wir nur warten. Und selbst wenn, hilft uns auch das Grab allein weiter. Sofern ihr es findet. Und jetzt geht mir aus den Augen. Morgen früh erwarte ich Neuigkeiten. Und sofern euch etwas daran liegt, sämtliche Körperteile beieinanderzubehalten, sollten es im Übrigen gute Neuigkeiten sein.“
    Mario und Jorge nickten zerknirscht. Es war unübersehbar, dass ihnen noch so manches auf der Zunge brannte. Doch weil sie gelernt hatten, das Schweigen in den meisten Fällen gesünder war, machten sie auf den Absätzen kehrt und verließen das Zimmer. Der Anwalt wiederum lächelte – diesmal voller Zufriedenheit. Liebevoll strich er über den Schaft des Pfeiles. Er wusste, dass das Ziel nah war. Zum Greifen nah.

     
    Der Rausch der Gefahr zwang sie zum Weiterlaufen. Die Stimme ihrer Vernunft schrie in ohrenbetäubender Intensität, aber es war zu spät, umzukehren. Josephine rannte. Sie stürmte den Weg hinauf, über den sie mit Max galoppiert war, und es war, als käme sie kaum voran. Die hektisch eingesogene Luft schmerzte in ihren Lungen, ihr Atem schien den gesamten Wald auszufüllen. Nathaniel würde wütend sein, keine Frage. Gewiss war er ein Mann, der es nicht gewöhnt war, Widerspruch zu erhalten. Doch ihr war es gleich. Sie würde niemals vor ihm kapitulieren. Wer war er, dass er ihr befehlen wollte? Für wen hielt er sich, dass er mit ihr spielte, als sei sie eine Beute, deren Erlegung er sich rühmen wollte?
    Josephine hielt inne, beugte sich nach vorn und stützte sich auf den Oberschenkeln ab. Stechender Schmerz fuhr zwischen ihre Rippen. Für gewöhnlich machten ihr Sprints wie dieser nichts aus, denn die Arbeit auf der Farm hatte ihren Körper im Laufe der Jahre gestählt. Doch diesmal fühlte sie sich so schwach, als sei alle Energie aus ihren Muskeln gesaugt worden. Es war nur seine Schuld. Irgendetwas war an ihm, dass ihre Kraft in sich aufsaugte, sobald sie einander nahe waren. Zwischen den sich neigenden Wipfeln der Tannen erhellte der fast volle Mond den Wald. Fledermäuse sirrten, in den Büschen zirpten Grillen.
    Josephine tastete nach dem Messer an ihrem Gürtel und rannte weiter. Erst, als sie zwischen den Bäumen das Glänzen des Wassers sah, verlangsamte sie ihren Lauf. Ein Feuer brannte am Ufer des Sees. Geduckt schlich sie zum nördlichen, höher gelegenen Ufer, wo von Farndickicht umschlossene Felsen in den

Weitere Kostenlose Bücher