Nathaniels Seele
würde.
„Rede nicht von Quatsch, wenn du nichts davon verstehst“, konterte er. „Menschen haben weitaus dümmere und abscheulichere Dinge getan, als sich zwecks höherer Erkenntnis selbst zu kasteien. Der Sonnentanz hat mir viele Antworten geschenkt. Wissen und Kraft. Weitaus mehr also als eure heilige Beschäftigung.“
„Unsere heilige Beschäftigung?“
„Fernsehen“, antwortete er.
„Ein Punkt für dich. Und wie ist das mit Marterpfählen?“
„Oh ja, die Marterpfähle.“ Er lächelte sinnierend. „Jeden ersten Samstag im Monat binden wir eine Gruppe Touristen daran fest und foltern sie zu Tode. Wir skalpieren sie, spicken sie mit Pfeilen und benutzen ihre Körperteile für unsere Rituale. Wobei wir die Körperteile natürlich abschneiden, solange die Opfer noch leben. Macht ja sonst keinen Spaß. Ohne dieses Gezappel und Geschrei.“
„Schon gut“, schnappte Josephine. „Ich habe verstanden. Aber warum sind es drei Narben nebeneinander?“
„Wer den Sonnentanz zelebriert, gibt das Versprechen ab, diese Zeremonie dreimal in seinem Leben zu wiederholen.“
„Insgesamt also viermal leiden? Das heißt, ein Tanz fehlt noch. Wie alt bist du?“
Nathaniel strich nachdenklich über seinen Talisman. Wären die Creolen und die Unterhose nicht gewesen, so hätte er ein Eindringling aus fernen Zeiten sein können. Ein Relikt. Seine Erscheinung strahlte etwas aus, für das ihr nur der Begriff zeitlos in den Sinn kam. Sie wollte mehr über ihn wissen. Sehr viel mehr. Jede winzige Information, die sie aus ihm heraussog, verstärkte diesen Hunger.
„Irgendetwas zwischen dreißig und fünfunddreißig, nehme ich an.“
„Du weißt es nicht genau?“
„Nein.“
„Sag mal, wie ursprünglich bist du eigentlich aufgewachsen? Hattet ihr keine Uhren oder was? Keine Kalender? Nichts?“
„Oh, wir hatten eine Menge. Aber keine Uhren und keine Kalender.“
„Unsinn.“ Josephine erwiderte seinen Blick kampflustig. „Du bindest mir einen Bären auf.“
„Das erinnert mich an eine Mutprobe, die ich als Junge absolvieren musste. Im Winter band mich ein Freund an einem schlafenden Bären fest und ließ mich bis Sonnenuntergang ausharren. Erst dann durfte ich mich befreien.“
„Hör auf, mir solchen Unsinn zu erzählen.“
„Es ist kein Unsinn. Bären schlafen im Winter sehr, sehr tief. Trotzdem hätte ich leicht sterben können. Aber so sind Jungen nun mal. Dumm wie Tannenhühner.“
„Bist du im vorletzten Jahrhundert groß geworden?“
Nathaniel antwortete lediglich mit Schweigen und einem leichten Neigen seines Kopfes.
„Warum gibt es bei euch den Sonnentanz?“, knirschte Josephine und hoffte, ein anderes Hintertürchen zu brauchbareren Informationenzu finden. „Soweit ich weiß, ist das ein Ritual der Prärieindianer. Der Sioux, oder nicht? Aber ihr gehört nicht zu denen.“
„Hast du dich jemals mit unserer Geschichte beschäftigt?“ Nathaniel nahm die braune Decke und legte sie sich um die Schultern, so, wie sie es auf alten Fotos gesehen hatte. „Darüber, woher wir kommen? Oder mit der Tatsache, dass es von einem Stamm meist sehr viele Untergruppen gibt, von denen jede ihre eigenen Vorlieben, Traditionen und Angewohnheiten pflegt?“
„Nein.“
„Siehst du?“ Ein triumphierendes Grinsen huschte über seine Lippen. Er hielt die Decke vor seiner Brust zusammen und ging nach draußen. Josephine folgte ihm, ohne sich sicher zu sein, ob er ihre Nähe weiterhin wünschte. Doch kaum war sie an seiner Seite, fuhr er zu erzählen fort: „Die Crow, oder Absarokee, wie wir uns in unserer Sprache nennen, stammen aus dem nordöstlichen Waldland dieses Kontinents. Sie lebten dort als sesshafte Ackerbauern. Im achtzehnten Jahrhundert wurden sie von dort vertrieben und wanderten in die Great Plains ein. Es dauerte nicht lange, bis mein Volk seine alte Lebensweise gegen die der nomadischen Jäger eintauschte. Wie die Präriestämme zogen wir den Büffelherden hinterher, jeden Frühling und jeden Herbst. Wir nahmen einige neue Rituale in unsere Kultur auf, so wie den Sonnentanz, und vergrößerten von Jahr zu Jahr unsere Pferdeherden. Die Macht unseres Stammes wuchs schnell. Wir wurden zu einem der stärksten Völker in den Plains. Bis das Schicksal sich zum zweiten Mal wendete. Die Weißen rückten näher, der Neid unserer Nachbarstämme wurde erbitterter, und irgendwann waren wir wieder gezwungen, eine neue Heimat zu suchen. Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, als das Land von
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