Nathaniels Seele
zu suchen, und es führte mich in diese Schlucht. Es hört sich verrückt an, aber ich wusste, wo du warst. Obwohl … wieso solltest du mich für verrückt halten? Nach allem, was passiert ist.“
„Könntest du einen der Ochsen auf den Grill packen?“, murmelte er im Halbschlaf. „Und ich brauche etwas Süßes. Schokolade. Kuchen. Stark gesüßten Tee.“
„Erst, wenn du mir die Wahrheit sagst.“
„Nicht jetzt. Ich bin zu müde. Ich will nur noch …“ Er fingerte nach der Decke und zog sie bis an sein Kinn. „Ich will nur noch schlafen. Komm später wieder. Dann erzähle ich dir alles. Verdammt, habe ich Kopfschmerzen.“
„Was nimmst du dagegen?“ Ihr war nach Heulen zumute. Oder auch danach, laut loszulachen. „Irgendwelche Kräuter? Magische Zaubersprüche?“
„Aspirin“, erwiderte er. „Da in der Schublade.“
Sie fischte die Medikamentenpackung heraus und gab ihm eine Tablette nebst einem Glas Wasser. Als sie Nathaniel beobachtete, wie er – völlig normalsterblich – das Zeug schluckte, gewann das Bedürfnis zu lachen Oberhand. Das alles war verrückt. Und sie knallte fröhlich durch.
„Na fein. Vielleicht bist du ja später in der Lage, mir zu antworten.“ Sie nahm den Tiegel, der auf dem Nachttisch stand, und tauchte zwei Finger hinein. Als sie die Salbe zwischen den Handflächen verrieb, öffnete Nathaniel noch einmal die Augen. „Was ist das?“
„Etwas, das hoffentlich hilft.“
Ihre Finger zitterten, als sie über die Brandmale glitten, so behutsam, dass die Erinnerungen an ihr erstes Beisammensein mit aller Macht an die Oberfläche strebten. Ihm schien es ähnlich zu gehen. Er schloss die Augen und lächelte verklärt, es offenbar genießend, sich ihrer Behandlung auszuliefern.
„Warum tust du mir das an?“ Josephine ließ ihre Hände über seine Haut gleiten. Langsam und lasziv. Das feuchte Schmatzen der Salbe trieb ihr Kopfkino ungeachtet aller Verwirrungen zur Hochform an. „Warum?“
„Weil ich dich liebe“, kam es leise zurück. „Es tut mir leid.“
„Was tut dir leid? Dass du mich liebst?“ Ihre Augen brannten. Die Gefühle drohten, sie von innen her zu sprengen. „Ist es das?“
Nathaniel antwortete nicht mehr. Sein ruhiger Atem und der langsame Schlag seines Herzens verrieten, dass er eingeschlafen war. Sie fuhr in ihrer Behandlung fort, ließ keine Stelle seines Oberkörpers aus, verteilte die nach Ringelblumen duftende Salbe selbst auf seinem Hals und auf seinen Armen, jeden Zentimeter Haut liebkosend. Als der Tiegel leer war, trocknete sie ihre Hände an einem Handtuch und beugte sich wieder über ihn, um einen Kuss auf seine Lippen zu hauchen.
Lange saß sie da und sah ihm beim Schlafen zu. Manchmal legte sie ihren Kopf auf seine Brust und hörte seinem Herzen zu, mal fuhr sie mit der Spitze ihres Zeigefingers die Adern unter der Haut seiner Unterarme nach.
Irgendwann, als sie seine Hand in der ihren hielt, nahm eine zuvor nur rudimentär in ihrem Kopf herumgeisternde Idee Gestalt an. Leise schlich sie in die Küche, nahm ein Messer aus der Schublade und kehrte zu Nathaniel zurück. Ihr Herz raste, als sie die Klinge an seiner Daumenwurzel ansetzte. Wenn er jetzt aufwachte, würde sie sich erklären müssen. Doch sie musste es wissen. Sie musste irgendeinen Beweis sehen, dass ihre verrückte Theorie Wirklichkeit war.
Sein Gesicht nicht aus den Augen lassend, drückte sie die Klinge in die Haut. Als sie spürte, wie das Fleisch nachgab, zog sie das Messer zurück, überzeugte sich noch einmal, dass Nathaniel nach wie vor schlief, und beugte sich über den Schnitt, den sie ihm zugefügt hatte. Das Wunder geschah so unvermittelt, dass Josephine seine Hand beinahe fallen ließ. Die flache Wunde schloss sich. Ihre glatten Ränder zogen sich zusammen, als unterlägen sie einer magnetischen Kraft, fügten sich zusammen und verschmolzen zu glatter, unversehrter Haut. Innerhalb dreier Herzschläge war nichts mehr zu sehen. Nicht einmal die zarteste Narbe.
Josephine sackte in sich zusammen. Sie zog sich auf das Bett, legte sich neben Nathaniel und tat für den Rest der Nacht nichts anderes, als sich von vertrauten Regeln und Gesetzen zu verabschieden. Sie liebte ihn. Nein, sie hasste ihn. Es war beides, und keine Emotion gewann die Oberhand.
Am nächsten Morgen war Nathaniel verschwunden. Ungläubig tastete Josephine über die leere Seite des Bettes – ungläubig, dass er verschwunden war, ungläubig darüber, was am Abend geschehen war. War er
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