Nathaniels Seele
Schicksal entziehen.“
Er hörte ein Rascheln, dann zog die Hitze von Rauch über seinen Körper. Absá segnete ihn mit einem Bündel glimmenden Süßgrases, murmelte Gebete und strich die duftenden Schwaden über seine Brust, seine Arme und das Gesicht. Früher hatten Rituale wie diese ihm Geborgenheit und Schutz vermittelt, waren Symbol für jene Einheit gewesen, die sein Volk mit allem, was existierte, verband. Aber das hier schmeckte nach bitterem Hohn. Nach Hass.
Als der Alte die Trommel zu schlagen begann, übernahm dieser Rhythmus die Kontrolle über Nathaniels Körper. Zunächst schlug sie im Takt seines Herzens, langsam und dumpf. Er wusste, dass Absás Gesicht sich mit dem schneller werdenden Rhythmus veränderte, so, wie der Druck der Hand auf seiner Brust fester wurde. Hunger begann ihre Züge zu verzerren, Ungeduld und die Gier nach verlorener Jugend. Erst, wenn Absá dem Tod in das Auge blickte, gab der Geist seine Kraft für sie frei, um ihr neues Leben zu schenken. Das letzte Mal vor sechsundvierzig Jahren.
Immer schneller schlug Wasu die Trommel, immer schneller schlug auch Nathaniels Herz. Nichts hätte er gegen den Sog dieser Macht tun können, denn sie bemächtigte sich seines Körpers auf einer Ebene, die nicht steuerbar war. Schweißtropfen perlten kitzelnd über seinen Nacken und die Schläfen, Muskeln begannen, sich zu verkrampfen. Absás Finger drückten fester zu, gruben sich in seine Haut, als wollten sie das Fleisch zerteilen und nach dem darunterliegenden Herzen greifen.
Noch schneller ging der Rhythmus der Trommel, raste der Puls in seinen Adern. Sengende Hitze brach in seiner Brust auf, loderte und wuchs, wurde immer heißer, immer mächtiger, je schneller die Trommel geschlagen wurde. Ekstase durchströmte seinen Körper, losgelöst von allem. Er rang nach Atem. Feuer legte sich um seine Lungen und presste die Luft heraus. Absás Nägel zerteilten seine Haut. Ihre Klauen glitten in ihn, langsam, genüsslich, hin zum Zentrum des Feuers. Bereitwillig teilte sich sein Fleisch unter dem Druck, als sei es weich wie eine überreife Frucht. Als sie tief genug war, strömte die Macht des Totems aus ihm hinaus wie ein Schwall pulsierenden Blutes. Hinein in ihre Klauen, die ihn in der Mitte durchbohrten. Das Ausmaß des Schmerzes war betäubend. Es durchzog seinen Körper mit einem einzigen, sämtliche Muskeln in Stein verwandelnden Krampf. Jeder Gedanke war so fern, dass nichts mehr existierte außer diesem Schmerz. Jeder Herzschlag verkörperte Unendlichkeit.
Als die Klauen sich zurückzogen, nahmen sie das Feuer mit sich. Es fühlte sich zäh an. Wie heißer Sirup. Der Schmerz endete, ging in matte Kälte über, die ihm jede verbliebene Kraft aus dem Körper saugte. Nathaniel spürte nicht mehr, wie er zur Seite sank. Irgendwann fand er sich am Boden liegend, die Wange an feuchtes Moos gedrückt. Arme und Beine waren taub und schienen nicht zu ihm zu gehören.
„Du hast keine Wahl“, säuselte es an seinem Ohr. „Begreifst du es endlich? Die Macht, die du trägst, ist zu groß. Du kannst dich ihr nicht widersetzen.“
Er sah ihr Gesicht in der Dunkelheit über sich schweben. Woksapa hatte Absá mit neuer Frische gesegnet und die hohlen Wangen gefüllt. Ihre Augen glänzten schwarz wie polierte Obsidiane, und ihre Lippen, die sich zu einem Lächeln hoben, waren keine trockenen Striche mehr, sondern voll und weich. Ihr Haar, so fein wie Spinnweben im Herbst, leuchtete noch immer weiß. Es hüllte sie ein in einen gleißenden Schleier.
„Ich danke dir.“ Sie umfing sein Gesicht und drückte ihre Lippen auf die seinen.
Süß und abscheulich war ihr Geschmack. Als sie zurückwich und ihm den Rücken zuwandte, wünschte er sich, ihr mit bloßen Händen die Wirbelsäule herausreißen zu können. Jetzt ließ sie ihn zurück, zu Tode erschöpft, zu schwach, einen Finger zu rühren. Doch war seine Kraft zurückgekehrt, würde sie ihn erneut unterwerfen. So war es immer gewesen. Ein Spiel aus Demütigung, Kampf und Niederlage, mit dem sie vergeblich versuchte, seinen Stolz zu brechen.
Nathaniel kehrte in seine Erinnerungen zurück. In Momenten wie diesen, da er dem Tod so nah und fern zugleich war, fand er nur dort Frieden. Sehnsüchtig nach allem, das Wärme und Schönheit vermittelte.
Erst eine Hand, die sich auf seine Schulter legte, holte ihn zurück in die Wirklichkeit. Es war eine zarte Berührung. Nicht zu vergleichen mit Absás besitzergreifenden Annäherungen.
„Nat?“,
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