Nathaniels Seele
dir, wahrscheinlich würde er mich an den nächsten Marterpfahl binden, wenn er wüsste, dass ich … na egal. Ich finde, du solltest wissen, auf was du dich einlässt.“
„Sag es mir.“ Josephine zitterte wie Espenlaub, und sie machte sich nicht die Mühe, ihren Aufruhr zu kaschieren.
„Es gibt da eine Frau, die große Macht über Nat hat. Gewissermaßen kann sie ihn zu allem zwingen, und sie hat keinerlei Skrupel, für die Durchsetzung ihrer Pläne den einen oder anderen Menschen aus dem Weg zu räumen. Ihr Name ist Absá. Sie hat Nat’s Frau und seinen Sohn auf dem Gewissen. Nicht direkt, aber sie sorgte dafür, dass sie einem wütenden Bären in die Quere kamen. Das ist ihre Macht. Sie drangsaliert nicht nur Nat, sondern auch jeden, der ihr ein Dorn im Auge ist. Jetzt scheinst du auf irgendeine Weise zu ihren Plänen zu gehören, und das macht Nat ziemlich nervös. Dann hätten wir da noch die Tatsache, dass er anders ist. Sehr viel anders, wie du sicher mitbekommen hast. Selbst, wenn ihr glücklich miteinander werdet, wirst du an seiner Seite altern und er bleibt ewig jung.“
Josephine starrte zu Boden. Ihr Gehirn war wie leer gefegt und arbeitete doch fieberhaft. Nathaniels Frau und sein Sohn. Der Bär. Ihr Traum. Das Puzzle, das sich zu einem logischen Ganzen zusammenfügte. Nur ein paar Teile fehlten zu einem kompletten Bild.
„Bring mich zu ihm“, brachte sie hervor. „Ich will ihn sehen.“
„Bist du sicher? Ganz sicher?“
„Machst du Witze?“, fauchte sie zurück. „Natürlich bin ich mir sicher.“
Die Nacht war bereits tief, als sie das Reservat erreichten. Viel erkannte sie nicht in der Dunkelheit, es gab nur wenige Laternen, deren orangefarbenes Schummerlicht jede Farbe und Lebendigkeit in sich aufsaugte. Das Reservat wirkte weder trostlos noch wohlhabend. Saubere, einfache Einfamilienhäuser reihten sich aneinander, unterbrochen von Schuppen, Garagen, Verschlägen und Gattern. Sie sah umherlaufende Hunde, Frauen mit ihren Kindern, die vor ihren Häusern saßen, eine mit Neonreklamen geschmückte Billardhalle und ein Café, vor dem mehrere Gruppen Jugendlicher herumlungerten und sich in nichts von ihren weißen Altersgenossen unterschieden, sah man von zwei Jungen ab, die ihr Haar lang trugen und es mit Stirnbändern versehen hatten.
Einzig das große Blockhaus – vermutlich der Sitz des Stammesrates – schindete Eindruck. Sein neu gedecktes Dach glänzte im Laternenlicht, rechts und links der mit Feldsteinen gepflasterten Auffahrt ragten zwei Totempfähle in den Nachthimmel und schienen einen Nachhall jenes Mysteriums in sich zu tragen, das längst aus dieser Welt verschwunden war. Bei Tageslicht mochten die Pfähle in allen Farben leuchten, doch jetzt hüllten sich die stilisierten Tier-, Menschen- und Götterfiguren in Töne aus schmutzigem Orange.
Bald tauchte zwischen den dunkel aufragenden Tannen der Silberglanz von Wasser auf, und kaum war Jeremy in den holprigen Pfad entlang des Ufers eingebogen, entdeckte sie ein Haus. Nathaniels Haus. Es entpuppte sich als überraschend schön, bestehend aus Baumstämmen, denen man die Rinde belassen hatte, gedeckt mit dunklem Blech. Eine Veranda ragte auf den See hinaus, getragen von den Stelzen. Auch hier thronte ein Totempfahl vor dem Eingang, doch war er kleiner und schlichter als jene, die das Verwaltungsgebäude flankierten. Soweit Josephine beurteilen konnte, war dieser Pfahl alt, seine Farbe war abgeblättert und die geschnitzten Darstellungen verwittert. Bitterkeit stieg auf, verbunden mit Herzrasen.
Selbst, wenn ihr beide glücklich miteinander werdet, wirst du an seiner Seite altern und er bleibt ewig jung
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Jeremy parkte den Wagen neben einem riesigen Holzstapel und begab sich ohne Umschweife zur Haustür, um sie für Josephine zu öffnen. Es lag kein Sinn darin, das Unvermeidliche hinauszuzögern. In ihrem Leben hatte sie zu oft gezögert, den Bedenken und Sorgen das Feld überlassen, anstatt die Dinge anzupacken. Nicht diesmal, schwor sie sich.
„Nat?“ Jeremy schlüpfte hinter ihr in das Innere des Hauses und sah sich um. Josephine wiederum biss sich auf die Zunge, tat einen weiteren Schritt in die Tiefe des Raumes und verharrte. Das Bild, das sich ihr bot, war chaotisch, aber ansprechend. Nur kurz war ihre Verblüffung groß genug, um alle Befürchtungen zu verdrängen. Obwohl lediglich die nötigsten Möbel vorhanden waren, hatte es Nathaniel geschafft, dem Haus eine Seele zu geben. Die offene Küche ging nahtlos
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