Nathaniels Seele
in das Wohnzimmer über, getrennt durch einen geschnitzten Paravent. Es gab einen uralten Sessel aus dunkelgrünem Samt, ein Sofa, das mit einer schwarzroten Webdecke bedeckt war, einen wurmstichigen Tisch, dessen Beine in Wolfstatzen endeten, einen Kamin und jede Menge Kissen und Decken, die wahllos auf dem Boden verstreut lagen. In einer großen Schale lagen geschätzte zwei Dutzend Tafeln Erdnuss-Karamell-Schokolade, in einem etwas kleineren Behältnis Pfefferminz-Toffees. Indianische Artefakte hingen an den Holzwänden: Traumfänger, bemalte Lederstücke, Felle und ein schwarzes Kalumet. Vor dem Kamin war ein Fell ausgebreitet, dessen Größe und Farbe vermuten ließ, dass es von einem Wapiti stammte. Es war gemütlich. Auf eine herbe, unordentliche Art.Neugierig nahm Josephine das an der Wand hängende, mit der Lederseite nach außen gekehrte Bisonfell in Augenschein. Mehrere Figuren waren mit schwarzer und roter Farbe darauf verewigt. Ein Mann und eine Frau, verbunden durch einen Kreis. Sternschnuppen, zwei Pferde samt Reitern, Bisonherden und ein Kanu neben einem brennenden Holzstapel, auf dem zwei Menschen lagen. Sie sah Zeichen, die ihr nichts sagten, unidentifizierbare Symbole und eine Gruppe Menschen, die etwas taten, das wohl ein besonderes Ritual darstellen sollte. Josephine berührte das Fell und spürte sein Alter. Eine Schicht Staub lag auf ihrem Zeigefinger, als sie ihn zurückzog. Staub, der nach altem Leder und nach Moder roch.
„Hast du schon mal von den Winterzählungen gehört?“ Jeremy stand hinter ihr und lächelte.
War es aufmunternd? Missmutig? Sie wusste es nicht. Aus irgendeinem Grund gewann sie den Eindruck, es wäre dem Jungen lieber gewesen, ohne sie hierher zurückzukehren.
„Ich habe davon gehört. Im Winter malte man alles Bedeutende auf, das im Verlauf des Jahres passiert ist, um die Erinnerung zu behalten.“
„Genau. Nat’s Frau hat dieses Fell bemalt. Er ist ein Nostalgiker, musst du wissen, und er ehrt die alten Zeiten mehr als seiner inneren Mitte zuträglich ist. Siehst du das hier?“ Er deutete auf die mit einem Kreis verbundenen Menschen. „Das stellt seine Hochzeit dar. Das Bild hier drüben erzählt von der Geburt seines Sohnes und hier werden Vater und Mutter seiner Frau nach ihrem Tod verbrannt. Das Kanu daneben ist das sogenannte Totenkanu. Dort hinein streut man die Asche und lässt sie bei Sonnenuntergang den Fluss hinuntertreiben. Es ist ein unübliches Bestattungsritual unter den Präriestämmen, aber Nat gehörte einem Unterstamm der Fluss-Absarokee an, die ihre eigenen Traditionen hegten.“
Josephine nickte. Sie deutete auf die Zeichnung, deren Sinn sich ihr nicht erschloss. „Was soll das darstellen?“
„Eine ziemlich tragische Sache. Es stellt ein Ritual dar, das dazu diente, die Büffel herbeizurufen. Zu der Zeit, als das Fell bemalt wurde, waren weiße Jäger mit Feuereifer dabei, die Tiere zu Millionen abzuschießen. Es gab Hungersnöte unter den Präriestämmen, und dabei blieb es nicht, denn zahllose wichtige Dinge stammten dummerweise vom Büffel. Nahrung, Kleidung, Haushaltsgegenstände, Zeltwände, sogar die Trinkbecher und Tabakbeutel. In ihrer Verzweiflung griffen die Stämme auf dieses Ritual zurück, um die Tiere zurückzurufen. Geholfen hat es nichts. Innerhalb weniger Jahre hat man die gesamte Nordherde ausgerottet, und die letzten paar Tausend Tiere, die es schafften, ihren Jägern zu entkommen, richtete man besonders perfide hin. Man wartete auf den heißen Sommer, stellte an den wenigen übrig gebliebenen Wasserlöchern Scharfschützen auf und ballerte den Rest der Herde zusammen. Übrig blieben Berge von Knochen. Das Ergebnis war, das auch die letzten rebellischen Stämme aufgaben und halb verhungert in die Reservate verfrachtet wurden.“
„Wie alt ist Nat?“ Ihre Stimme war nur ein Flüstern.
„Verwandelt wurde er vor einhundertachtundvierzig Jahren“, antwortete Jeremy so gleichmütig, als hätte er ihr verraten, dass sein Freund Kaffee statt Tee bevorzugte. „Da muss er ungefähr so alt gewesen sein, wie du jetzt bist.“
„Verwandelt?“
„Ab hier wird es kompliziert. Deswegen überlasse ich den Rest lieber Nat. Komm, er ist sicher draußen in der Schwitzhütte.“
„Schwitzhütte?“
„Inipi“, erwiderte Jeremy. „Das Schwitzhüttenritual. Gut für Körper und Geist.“
Als sie an Jeremys Seite das Haus umrundete und zu einem Hain aus alten Tannen marschierte, musste sie sich mehrmals kneifen, um zu
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