Nathaniels Seele
begreifen, dass sie sich in der Realität bewegte. Jeder Gedanke war schwer und träge. Alles in ihr schien zu verharren, darauf wartend, von der Wahrheit geweckt zu werden.
„Da wären wir. Darf ich vorstellen? Scott Black Fox, der Hüter des Feuers und Leiter des Rituals.“
Ein alter Mann mit langem, grauem Haar drückte ihre Hand. Er trug eine schmutzige Jeans, ein graues Hemd und einen Cowboyhut mit angesteckter Bussardfeder. Seine Augen, trüb vom Alter, musterten sie freundlich.
„Willkommen“, schnarrte seine Reibeisenstimme. „Schön, dass du hergefunden hast.“
Josephine lächelte. Sie betrachtete die runde, etwa zwei Meter hohe Kuppel. Das Gebilde war umgeben von einem Kreis aus hellen Steinen, der vor dem Eingang in eine Art Pfad überging und in einem zweiten, mit einer Mulde versehenen Steinkreis endete. In dieser brannte ein Feuer.
„Sieht nicht aus wie die Dinger, in die ihr Touristen steckt.“ Josephine ließ ihren Blick schweifen. Der Gedanke, dass Nathaniel in dieser Hütte saß, traditionell kaum verhüllt, verstärkte ihre Nervosität.
„Ja“, erwiderte Jeremy, während der alte Mann milde lächelte und den Eindruck vermittelte, nicht ganz anwesend zu sein. „Wir nehmen keine Decken, sondern Felle. So wie unsere Vorfahren. Hier ist auf Nat’s ausdrücklichen Wunsch hin alles authentisch. Er legt höllisch Wert darauf.“
Neben dem lodernden Feuer steckte eine Forke im Boden. Vermutlich diente sie dazu, die glühend heißen Steine in das Innere der Schwitzhütte zu tragen.
„Black Fox hat sicher schon einen Platz für dich vorbereitet.“ Jeremy warf dem Ritualleiter einen forschenden Blick zu, den dieser mit einem Nicken erwiderte. „Als Erstes erkläre ich dir ein paar Sachen, die du wissen solltest, wenn du heute Abend nicht am Marterpfahl landen willst. Black Fox ist, wie schon erwähnt, der Hüter des Feuers. Das heißt, er bringt euch die Steine und beschützt das Ritual.“
„Wovor?“
„Vor bösen Geistern.“ Jeremys Miene und die des alten Indianers blieben unverändert ernst. „Nat dürfte die ersten beiden Runden bereits hinter sich haben, deswegen solltest du sie hier draußen nachholen. Danke für alles, was dir widerfahren ist, was du erlebt und gelernt hast.“
„Wie mache ich das?“
„Sage einfach danke. Im Geiste.“
Josephine nickte, während sie gehorsam einige stumme Worte gen Himmel schickte. Zu was oder wem auch immer.
„Gut.“ Jeremy schien zufrieden zu sein. „Jetzt bitte für dich und für alle, die du liebst.“
„Wofür soll ich bitten?“
„Ideen“, antwortete er schulterzuckend. „Einsicht, Energie, Heilung. So was eben. Was nicht zählt, sind Dinge wie Ferraris, Schönheitsoperationen, der neueste Computer oder ein Lottogewinn.“
„Okay.“
„Hast du es getan?“
„Ja.“
„Dann solltest du dir überlegen, was du in der dritten Runde geben willst. Du musst etwas verschenken und deshalb vorher wissen, was du loswerden willst. Damit meine ich nichts Materielles. Wenn du in die Hütte eintrittst, sage die Worte Mitskuje Ojassin. Das bedeutet soviel wie: Danke all meinen Verwandten.“
„Meine Verwandten?“
„Damit meinen wir traditionell alle Wesen aus dem Reich der Tiere, Pflanzen, Menschen, Steine und Mineralien.“
Josephine nickte. Noch einmal kniff sie sich in den Arm.
„Wenn du glaubst, es nicht mehr auszuhalten,“ fuhr Jeremy fort, „dann sage, dass du deine Verwandten sehen möchtest. In der Hütte ist es so dunkel, dass du kaum etwas erkennen kannst, also wirst du hinausgehen müssen, um deinem Bedürfnis nachzugehen. Es ist die höflichste Art, das Ritual zu verlassen. Meine Empfehlung geht jedoch dahin, es zu ertragen. Die Schwitzhüttenzeremonie dient nicht nur als Heilung und Reinigung, sie dient auch vielen anderen Zwecken. Raum und Zeit hören auf, zu existieren, wenn du lernst, deine Grenze zu überschreiten. Es sind zumeist eingebildete Grenzen, geboren aus Konditionierung und falscher Angst. Du kannst in diesem Zustand deine innere Stimme hören und bist frei für Neues. Für Veränderungen und Selbstreflexionen. Dunkelheit und Wärme bringen dich zurück in den Schoß unserer Mutter. Deshalb gib, wenn du glaubst, es nicht mehr auszuhalten, die zu stark gewordene Kraft zurück an die Erde. Oder an jemanden, von dem du glaubst, dass er sie brauchen kann. Bist du bereit?“
Josephine nickte.
„Gut, dann zieh dich aus.“
„Hier und jetzt?“
„Du wirst wohl Unterwäsche tragen, hoffe
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