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Natürliche Selektion (German Edition)

Natürliche Selektion (German Edition)

Titel: Natürliche Selektion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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Spruch, der mir geblieben ist. Ich habe mein Paradies gefunden, stand drauf.«
    »Und – wo liegt dieses Paradies, hat er das nicht geschrieben?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein, aber die Karte kam aus Cayenne.«
    »Französisch-Guayana?«
    »Ja, weiß der Himmel, was ihn dorthin getrieben hat.«
    »Lebt er immer noch in Cayenne?«
    »Keine Ahnung, tut mir leid. Wie gesagt, seither hat er sich nicht mehr gemeldet. Ist auch nicht weiter verwunderlich. Wir waren ja nicht eng befreundet oder so ähnlich.«
    »Das Paradies«, wiederholte Audrey nachdenklich. »Eigentlich bleibt man doch dort für die Ewigkeit.«
    »Außer man beisst in den Apfel«, lachte Maria, erleichtert, dass die Fragerei wohl bald ein Ende hätte.
    Leo schwankte wieder zwischen hoffen und bangen. Ihre Suche war noch lange nicht zu Ende. Was tu ich bloß hier? , fragte sie sich nicht zum ersten Mal. Was nützte ihr, den Namen des Colonels zu kennen? Er blieb ein Phantom. »Ich muss an die frische Luft«, murmelte sie und stand auf. Draußen herrschten dreißig Grad im Schatten, aber im Haus wurde es ihr zu eng. Sie hatte das Gefühl, zu ersticken.
    Auch Maria erhob sich. »Ich glaube, ich verstehe Sie«, sagte sie besorgt. »Aber wenn jemand den Colonel wirklich kennt, dann Tom.«
    Leo setzte sich mit Audrey in den Schatten einer Palme. Kaum ein Lüftchen wehte. Die drückende Hitze trieb ihr den Schweiß aus den Poren, und doch atmete sie freier als im Haus. Sie schaute eine Weile schweigend zu, wie der sanfte Wellenschlag nasse Zungen in den Sand zeichnete. Das rhythmische Plätschern beruhigte sie allmählich, milderte die Ernüchterung über die fruchtlose Suche. Aufzugeben war nicht länger undenkbar.
    »Warum bleiben wir nicht einfach hier?«, sagte sie plötzlich.
    Bevor Audrey protestieren konnte, antwortete eine bekannte Stimme: »Eine ausgezeichnete Idee.« Maria setzte sich neben sie in den Sand. »Bleiben Sie wenigstens diese Nacht. Es ist Neumond, und Sie werden ihr blaues Wunder erleben, das verspreche ich Ihnen.«
    Das blaue Wunder offenbarte sich, als sie zusah, wie ihre Tochter nachts, nur vom Licht der Sterne beleuchtet, mit ruhigen Zügen ins Meer hinausschwamm. Mit einem Mal begann das Wasser um ihre Arme und Beine zu funkeln und in lichtem Türkis zu schimmern. Je mehr sie sich bewegte, desto intensiver strahlte das wundersame Licht. Es war, als schwebte ihr nackter Körper auf einer Wolke glitzernden Sternenstaubs.
    »Warte!«, rief sie, überwältigt vom stillen Spektakel, das die Myriaden leuchtender Flagellaten in der Mosquito Bay veranstalteten, wenn man sie reizte. Sie warf die Kleider auf einen Haufen und glitt ins Wasser. Sie schwamm ein paar Züge, dann liess sie sich auf dem Rücken treiben. Ein Glücksgefühl durchströmte sie, wie sie es nicht mehr kannte, seit Michel sie verlassen hatte. Bald begannen die kleinen blauen Blitze zu ihr zu sprechen. Sie flüsterten ihr eindringlich ins Ohr: »Nicht aufgeben, Leo, nicht aufgeben!«
Cayenne, Französisch-Guayana
    Audrey glaubte nicht daran, den Zivilisationsflüchtling Tom im Telefonbuch zu finden, doch sie sagte nichts und blätterte weiter. Mit Leos Stimmungsschwankungen musste man vorsichtig umgehen. Sie hoffte für den Seelenfrieden ihrer Mutter, dass der Mann wenigstens noch lebte. Aber auch dann könnten sie Pech haben. Falls er sich nicht in Cayenne oder einer der kleineren Städte an der Küste aufhielt, hatten sie schlechte Karten. Das Hinterland war doppelt so groß wie die ganze Region Rhône-Alpes und bestand aus nichts als unberührtem Urwald, in den man nur über die Flüsse eindringen konnte.
    Sie sah, dass Leo auch auf dem Trockenen saß und holte ungefragt zwei weitere Becher des eiskalten Mangosaftes an der Bar. Mit dem Getränk schob sie ihrer Mutter das Telefonbuch von Cayenne hin. »Nichts«, bemerkte sie unnötigerweise. »Cayenne habe ich durch, aber schau selber nach.«
    Leo schlug das Buch wortlos auf, während sie sich Kourou vornahm. Eine gute Stunde saßen sie im Hof des Hotels, suchten in allen verfügbaren Telefonbüchern nach jeder Variante des Namens Ribaut. Am Schluss hatte Audrey ganze drei Kandidaten notiert. Sie erhob sich und ging ein paar Schritte, um die Glieder zu lockern. Überrascht vom lauten Geschrei der schwarz-weißen Fregattvögel, stellte sie fest, dass sie die Umgebung bisher kaum wahrgenommen hatte. Kleine Eidechsen flüchteten vor jedem ihrer Schritte zwischen die Steine, und wenn das Kreischen der Vögel für einen

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