Natürliche Selektion (German Edition)
Zeit ohne weiteres jedes Jambalaya kochen könnte. Das Haus lag in einem kleinen Garten, von dem nur noch wuchernde Wiese übriggeblieben war. Das alles war nicht der Grund, weshalb sich die beiden Frauen so ratlos anschauten. Ihr Problem war, dass die Jalousien aussahen wie die Zähne eines armen Schluckers, der sich zeitlebens keinen Zahnarzt leisten konnte, dass das Glas in den Fenstern fehlte und die Tür aus zwei über Kreuz vernagelten Brettern bestand. Toms Haus war eine Ruine. Hier wohnte bestimmt niemand mehr.
»Das darf doch nicht wahr sein«, seufzte Audrey und drückte damit aus, was sie selbst aus Enttäuschung und Ärger nicht auszusprechen vermochte. Wie gelähmt stand sie mitten auf der Strasse, während ihre Tochter mit verbissenem Gesichtsausdruck ums Haus schlich. Nur um sicher zu gehen, dass sie sich nicht täuschten , meinte sie. Die Inspektion dauerte nicht lange. Audrey zuckte nur mit den Achseln und schüttelte den Kopf, als sie zurückkam. »Wir müssen die Nachbarn fragen«, sagte sie nach einem zweiten Blick auf die Umgebung. Es war still, bis auf das Schimpfen einiger Vögel in den Büschen. Die Menschen hatten sich in der Mittagshitze in den Schatten ihrer Häuser zurückgezogen. Nur eine alte Frau humpelte mühsam die Gasse herunter auf sie zu. Das in Ehren geschrumpfte Gesicht der kleinen Gestalt versank beinahe im weit ausladenden, rot-weiß karierten Rüschenkleid.
»Kann ich Ihnen helfen? Wen suchen Sie?«, lispelte sie in kaum verständlichem Französisch. Dabei verzog sie ihren zahnlosen Mund zu einem breiten Grinsen.
Leo lächelte freundlich zurück. »Wir wollten Tom besuchen. Tom Ribaut, wohnt er nicht mehr hier?«
»Tom!«, lachte die Alte, dass sich ihre Stimme überschlug. »Der gute Tom. Hatte immer ein Pülverchen parat für meine alten Knochen, der schlaue Medizinmann. Jammerschade, dass er weggezogen ist.«
Leo wagte kaum zu fragen: »Wissen Sie wohin?«
Die Frau machte eine wegwerfende Handbewegung und schaute sie missbilligend an. »Hat sein schönes Haus einfach verscherbelt, um einen Fischkutter zu kaufen, der Dummkopf. Jetzt wohnt er auf dem Boot und vertreibt sich die Zeit mit Fischen.«
Das muss schon eine Weile her sein, dachte sie beim Anblick des schönen Hauses. Ihre Chancen, den guten Tom zu finden, waren gerade rapide gesunken. Trotzdem fragte sie weiter: »Und wo fängt er seine Fische?«
»Im Wasser«, platzte die Alte heraus und lachte schallend. Leo begnügte sich, mit säuerlichem Lächeln mitzuhalten. Die Frau fand ihren Witz so gelungen, dass sie sich ausführlich die Nase putzen musste. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu warten, bis sie sich beruhigte. Dann sagte sie, was Leo nicht mehr zu hoffen gewagt hatte: »Seine ›Esperanza‹ liegt im Alten Hafen, wenn er nicht auf See ist. Am besten fragen Sie die Fischer dort. Hängen ja oft genug in den Bars herum.« Wieder drohte ihr Lachen zu überborden. Sie dankten der fröhlichen Alten und eilten schleunigst die Gasse hinunter zur Hauptstrasse.
Sie folgten ein paar hundert Meter dem Kanal, der sein Wasser beim Alten Hafen ins Meer ergoss. Vielleicht ein Dutzend Fischerboote ankerten hier, dazwischen Pirogen, die langen, schmalen Holzkanus, die schon beim bloßen Hinsehen kenterten.
»Wetten, dass keine ›Esperanza‹ dabei ist?«, meckerte Leo, während sie an den Schiffen vorbeischlenderten.
Audrey warf ihr einen spöttischen Blick zu und meinte: »Die geborene Optimistin, wie? Du weißt aber schon, was ›Esperanza‹ bedeutet?«
»Hoffnung, darum sind wir ja hier.«
»Sag ich doch.«
Wenn sie wenigstens wüssten, wie Toms Schiff aussah, aber diese naheliegende Frage hatten sie der alten Frau schlicht nicht gestellt. Zu sehr waren sie darauf bedacht, ihrem hartnäckigen Gelächter zu entkommen. Wie sie befürchtet hatte, befand sich unter den Booten im Hafen keine ›Esperanza‹. Sie winkte ihrer Tochter und zeigte auf die nächste der vielen Bars. Mit der Bemerkung: »Fragen wir seine Kollegen«, ging sie entschlossen auf das Lokal zu.
Bei der zweiten Kneipe hatten sie Glück. Sie machte einen ziemlich improvisierten Eindruck. Kaum ein Fremder verirrte sich hierher, aber es schien das Stammlokal der Fischer zu sein, die einer nach dem andern eintrafen, um sich vom anstrengenden Markttreiben zu erholen. Auch diese Männer, deren lederne Hände vom täglichen Kampf mit den nassen Tauen der Netze erzählten, sprachen mit Hochachtung vom ihrem Freund, dem guten Tom. Vom Doktor
Weitere Kostenlose Bücher