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Natürliche Selektion (German Edition)

Natürliche Selektion (German Edition)

Titel: Natürliche Selektion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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der Psychiatrie zum einfachen Fischer mutiert, schien er sich nebenbei als barmherziger Samariter zu betätigen. Aber warum war er nicht bei seinen Freunden?
    »Er wird seine Kinder besuchen«, grinste einer der Männer.
    Der Gedanke war neu für Leo. »Ach, er hat Familie«, murmelte sie albern.
    »Und wie«, lachte der Fischer. »Der gute Tom bekommt jedes Jahr hunderte kleine Kinder.« Die Kollegen stimmten in sein Gelächter ein. Keiner kümmerte sich um ihre verwirrten Blicke. Schließlich hatte der Sprecher ein Einsehen und erklärte ihr, wie sie Tom treffen konnte: »Am besten kommen Sie am Morgen hierher. Tom fährt früh raus, sehr früh.«
    Draußen herrschte stockfinstere Nacht, als sie der Summer des Weckers vom unruhigen Schlaf erlöste. Sie duschte sich schnell den Mief der schwülen Nacht vom Leib, streifte das zitronengelbe Strandkleidchen über, dessen Saum gerade noch an der Anstandsgrenze für einsame Aussteiger lag, und schlich auf leisen Sohlen aus dem Haus. Sie hatte sich den Weg zum Hafen so gut eingeprägt, dass sie ihn blind gefunden hätte. Beim großen Platz des Museums bog sie in die rue Molé ein, die zum Kanal führte. Die sonst von Fußvolk, Autos und vor allem stinkenden Motorrädern verstopfte Strasse lag einsam und verlassen da. Nur ein Straßenkehrwagen kündete mit seinem aufdringlichen Lärm vom neuen Tag. Am Kanal folgte sie der Straße, die sich großartig Avenue de la Liberté nannte. Kein Mensch begegnete ihr auf dem Weg zum Alten Hafen, doch das änderte sich schlagartig, als sie den Kai betrat. Tom war offenbar nicht der Einzige, der früh auslaufen wollte. Einen Augenblick fürchtete sie, schon wieder vergeblich unterwegs zu sein. Atemlos lief sie dem Kai entlang, versuchte die ›Esperanza‹ im schwachen Licht der schwankenden Scheinwerfer zu entdecken. Ihre betont weibliche Silhouette mit dem hellen, flatternden Kleid erregte Aufsehen bei den rauen Gesellen, die hier in aller Herrgottsfrühe ihre Kutter klarmachten. Manch einer kommentierte ihren Auftritt mit einem schrillen Pfiff, doch sie war nur an Bootsnamen interessiert.
    »Tom liegt da drüben, das letzte Boot«, rief ihr einer der Fischer entgegen, als sie sich näherte. Ihr Gesprächspartner aus der Bar hatte sie wiedererkannt. Sie dankte ihm mit einem kräftigen Handschlag im Vorbeigehen und beschleunigte ihre Schritte. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als der Mann auf dem letzten Boot ins Scheinwerferlicht trat. Die drahtige Gestalt steckte in grauer Wathose bis fast unters Kinn und Gummistiefeln, wie die meisten der Männer, aber der Kopf mit dem wuchernden Vollbart war der eines Sigmund Freud, den man ein Jahr oder zwei auf einer einsamen Insel ausgesetzt hatte. Kein Zweifel, sie stand vor dem Vertrauten des Colonel.
    »Dr. Tom Ribaut?«, rief sie laut, um den Lärm des Diesels zu übertönen.
    Der Mann stutzte, musterte sie eingehend, bevor er zurückrief: »Wer will das wissen?«
    Sie trat so nah ans Boot heran, dass sie sich am Tau festhalten musste, um nicht ins Wasser zu fallen. »Entschuldigen Sie, ich bin Dr. Eleonora Bruno aus Paris, und ich möchte mit Ihnen über den Colonel sprechen.«
    »Sind Sie von der Polizei?« Ein lauernder Blick begleitete die Frage.
    Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein, es ist eine lange Geschichte. Können wir irgendwo in Ruhe reden?«
    »Keine Zeit, muss auslaufen, sonst entwischen mir die Krabben.« Er schickte sich an, die Taue zu lösen.
    »Nein!«, schrie sie, von panischer Angst ergriffen, auch diese Spur zu verlieren. »Der Colonel hat meinen Verlobten umgebracht!«
    Der Mann, der sich noch immer nicht als Tom zu erkennen gegeben hatte, hielt inne. Er beugte sich zu ihr hinunter, studierte ihr Gesicht, wie sie es oft mit ihren Patienten getan hatte, dann streckte er die Hand aus und sagte nur: »Kommen Sie.«
    »Auf diesen Kahn?«, rief sie entsetzt. »Niemals. Mir wird schon schlecht beim Hinsehen.« Er schien sie nicht gehört zu haben, verharrte in der gleichen Stellung, wartete auf ihre Hand. Er brauchte nichts zu sagen, die Geste war deutlich genug: auf dem Schiff oder gar nicht, ihre Entscheidung. »Das wird ein Desaster«, murmelte sie mit weichen Knien, als sie seine Hand ergriff.
    Er zog sie mit Leichtigkeit aufs Boot, als wäre sie nicht schwerer als einer seiner leeren Körbe. »Tom«, sagte er, bevor er ihre Hand losließ.
    »Leo«, keuchte sie, während sie versuchte, sich an den Gestank auf dem Boot zu gewöhnen und ruhig zu atmen. Wenigstens auf dem

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