Natürliche Selektion (German Edition)
unterbrach Audrey zu Leos Verdruss. Warum ließ sie Maria nicht einfach weiterreden?
»Der Kommandant. Es war ein Räumungsbefehl von ganz oben in der Navy, und er wurde unverzüglich ausgeführt. Patienten und loses Material haben sie wie in einer Evakuationsübung noch in derselben Nacht auf Boote verladen, die alles auf ein Rettungsschiff vor der Küste verfrachteten. Mich haben sie vor die Wahl gestellt, mit an Bord zu gehen, wenn ich den Job behalten wollte, oder fristlos entlassen auf der Insel zu bleiben. Vor Morgengrauen waren die Schiffe schon wieder fort. Zurück blieben nur die leeren Häuser, als hätte es die Klinik nie gegeben.«
»Sie konnten nicht weg wegen ihrem Vater, stimmt’s?«, fragte Leo mitfühlend.
»Ja, aber ich wollte auch nicht mehr mitmachen. Nach dem, was mit den sechs Männern geschehen war, hatte ich die Nase voll von diesem Verein, das können Sie mir glauben.« Audrey setzte schon zur nächsten Frage an, hielt aber den Mund, als sie Leos strafenden Blick auffing. Nach kurzem Zögern sprach Maria weiter: »Der Colonel persönlich ordnete damals eine brandneue Therapie für diese Leute an. Zehn Tage haben sie durchgehalten, dann fielen sie ins Koma und erwachten nicht mehr. Ihre Leichen wurden stillschweigend weggeschafft. Man hat sie nie mehr gefunden. Ich weiß das, weil die Polizei nach der Schließung vergeblich nachgeforscht hat. Aber wie gesagt: lange haben sie nicht gesucht, oder durften nicht suchen.«
Wieder hinderte sie Audrey daran, die wichtigste Frage zu stellen. Stattdessen führte sie ihr eigenes Verhör weiter: »Erinnern Sie sich an die Namen der Männer?«
»Nur einer ist mir geblieben: Zbigniew. Zbigniew und Jan Stefanski, zwei polnische Immigranten, eineiige Zwillinge, darum erinnere ich mich. Jan ist beim Anschlag im Irak ums Leben gekommen und manchmal kam mir vor, sein Bruder sei mit ihm gestorben. Mehr weiß ich nicht.«
Leo stellte endlich die Frage, die ihr seit dem Beginn des Gesprächs auf der Zunge brannte: »Wer ist dieser Colonel?« Noch hoffte sie, die ehemalige Schwester könnte ihren geheimnisvollen Gegner identifizieren, doch Marias Gesichtsausdruck verriet schon bevor sie den Mund aufmachte, dass sie sich irrte.
»Ich weiß nicht«, antwortete sie kopfschüttelnd. »Ich habe ihn nur ein paar Mal gesehen. Die meiste Zeit verbrachte er drüben bei RDC. Wenn er da war, sprach er nur mit dem leitenden Arzt.«
»Sie haben nie seinen Namen gehört?«, fragte Leo enttäuscht. Wieder ratloses Kopfschütteln. Der Colonel blieb ein Phantom. Ihre Enttäuschung wurde zur schieren Verzweiflung. Warum mussten Michel und seine Freunde sterben? Nur der Colonel konnte diese Frage beantworten. Sie schreckte aus ihren trüben Gedanken auf, als Audrey ihre Ermittlung unbeeindruckt sachlich weiterführte:
»Können Sie ihn beschreiben?«
Maria dachte angestrengt nach und versuchte ihr Bestes, das Phantom zu beschreiben. Sie zeichnete das Bild eines Mannes in den Fünfzigern, das ebenso gut auf ein halbes Dutzend von Leos Bekannten passte.
Auch Audrey gab den Versuch auf, mehr über den Colonel zu erfahren. Sie verfolgte eine andere Spur: »Sie erwähnten, der leitende Arzt sei so etwas wie der Vertraute des Colonel gewesen?«
Zum ersten Mal lächelte die Frau wieder. »Sigmund Freud«, murmelte sie verträumt.
»Wie bitte?«, rief Leo erschrocken.
»Alle nannten ihn so. Mit seinem sauber gestutzten Bärtchen, dem durchdringenden Blick und der beginnenden Glatze glich er verblüffend dem berühmten Vorbild über seinem Schreibtisch. Tom Ribaut war sein richtiger Name.« Ihrem Gesicht nach zu urteilen, verband sie angenehme Erinnerungen mit diesem Herrn. Sie fügte denn auch schmunzelnd hinzu: »Er hat uns Mädchen damals mächtig Eindruck gemacht.«
Leo wagte kaum zu fragen, wollte aber dennoch wissen: »Lebt der Mann noch?«
»Ich glaube schon. Der Kontakt ging schnell verloren, aber immerhin war er der Einzige, der sich anständig von uns verabschiedet hatte. Eine richtige Strandparty hat er geschmissen. Zum Abschied von der Zivilisation , hat er gesagt. Nach dem Vorfall mit den sechs Soldaten hat er sich fürchterlich gestritten mit dem Colonel. Für Tom war es das Zeichen, ein neues Leben anzufangen, wie er meinte.«
»Wann hatten Sie zum letzten Mal Kontakt zu ihm?«, fragte Audrey.
Maria zuckte die Achseln. »Ich glaube, das war vor fünf oder sechs Jahren. Kontakt kann man es nicht nennen. Wir bekamen damals nur eine Ansichtskarte mit einem
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