Natürliche Selektion (German Edition)
bisher nicht eben ergiebige Suche, was sich offenbar in ihrem verdrossenen Gesicht widerspiegelte. Ihre Tochter legte instinktiv den Arm um sie, als sie die Rezeption betraten und versuchte, ihr Mut einzuflössen:
»Kopf hoch, Maman, gleich haben wir’s geschafft.«
Sie sagte nichts, aber ihr Puls beschleunigte sich beim Anblick der Frau, die auf ihr Klingeln hin an den Empfangstresen trat. Sie war schlank, aber kräftig gebaut. Ein männlicher Körper und männliche Gesichtszüge, hart und doch mit Lachfältchen um die Augen. Die Frau machte den Eindruck, genau zu wissen, was sie wollte, und sie war zweifellos eine jüngere Kopie des tauben Antonio. Freundlich lächelnd begrüßte sie die neuen Gäste mit breitem Südstaatenakzent:
»Willkommen im ›Bahía azul‹, meine Damen. Haben Sie eine Reservation?«
Leo beschloss, nicht lange zu fackeln. Sie glaubte, ihr Gegenüber wüsste Direktheit zu schätzen und antwortete: »Guten Tag, Mrs. Velàsquez. Sie sind doch Maria Velàsquez, nicht wahr?«
Das Lächeln gefror. Die Frau schaute sie misstrauisch an, doch bevor sie antworten konnte, beruhigte sie Leo:
»Entschuldigen Sie, wenn wir Sie so überfallen.« Sie erzählte von ihrer Unterhaltung bei RDC.
Sobald sie den Namen ihrer Bekannten hörte, taute Maria wieder auf. »Kommen Sie, das sollten wir nicht hier besprechen«, sagte sie und führte sie in ein Arbeitszimmer, wo sie sich ungestört unterhalten konnten. Die direkte Art zahlte sich aus. Sie waren im Geschäft. Maria betrachtete eine Weile ihre Fingernägel sehr intensiv, bevor sie zu sprechen begann: »Wissen Sie, das alles ist vor langer Zeit geschehen, und ich wollte, ich könnte die Erinnerung begraben und vergessen.«
»Tut mir leid, wenn ich schlimme ...«
»Nein, nein, ist schon in Ordnung. Das Gedächtnis lässt sich nicht täuschen. Ich glaube, solange ich nicht weiß, was damals wirklich geschehen ist, werde ich selbst keine Ruhe finden. Darum bin ich Ihnen im Grunde dankbar dafür, dass Sie die Sache endlich aufklären wollen. Obwohl ...« Sie zögerte.
»Obwohl?«
»Wissen Sie, damals hat man zwar angefangen zu ermitteln, das Verfahren aber nach kurzer Zeit eingestellt. Ich kann es natürlich nicht beweisen, aber ich vermute, dass die Suche von ganz oben, und ich meine ganz oben, blockiert wurde.«
»Vom Gouverneur? Welche Suche?«
Maria lächelte bitter. »Jetzt muss ich mich entschuldigen. Ich sollte die Geschichte wohl besser von Anfang an erzählen.«
»Stört es Sie, wenn ich mir Notizen mache?«, fragte Audrey, während sie ihr schwarzes Büchlein zückte.
Maria schüttelte den Kopf und sammelte ihre Gedanken, bevor sie weitersprach: »Zwölf Jahre sind es jetzt her, als ich nach einer Ausbildung an der Naval Branch Medical Clinic in Fort Worth, Texas, hierher zurückkehrte. Damals befand sich hier eine Reha-Klinik der Navy, wie Sie ja wissen. Ich arbeitete zwei Jahre als Hilfsschwester, bis die Klinik praktisch über Nacht geschlossen wurde.«
»Was ist geschehen?«, fragte Leo lauernd.
»Eines Tages wurde der klägliche Rest einer Kampfeinheit eingeliefert. Die Männer waren zur Unterstützung der Army im Irak im Einsatz. Sie hatten ein Dorf gesichert. Am Tag, als die Schule wieder öffnete, standen sie auf dem Schulhof und freuten sich an der Schar fröhlicher Kinder, die von allen Seiten herbeiströmten. Ein kleiner Junge spielte mit einem Ball, und genau in dem Moment, als alle dreißig Kinder versammelt waren, ging der hoch. Fünf Kinder und sechs Soldaten haben überlebt.«
Ihre letzten Worte waren kaum zu hören. Die grauenhafte Geschichte ging ihr auch nach all den Jahren noch nahe. Sie wagten nicht, ihr Schweigen zu unterbrechen. Schließlich fügte sie leise hinzu: »Diese sechs kamen dann zu uns. Äußerlich waren sie nur leicht verwundet, aber ihre Seelen hatten sie auf jenem Schulhof verloren. Ich habe nie wieder Menschen mit so leeren Augen gesehen.«
Leo konnte sich vorstellen, was in der Psyche dieser Männer vorgegangen sein musste. Derart schwere posttraumatische Belastungsstörungen lösten Angst und Depressionen aus und konnten bis zur dissoziativen Identitätsstörung führen, wo der Betroffene sich in eine andere Persönlichkeit flüchtet, die nichts mit dem erlebten Schock zu tun hat. Sie verstand auch Marias Betroffenheit, aber sie musste weiterfragen: »Hat die Schließung mit diesen Patienten zu tun?«
Sie nickte heftig. »Oh ja, die armen Kerle.«
»Wer hat die Schließung angeordnet?«,
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