Natürliche Selektion (German Edition)
nicht fassen, dass jemand die Untersuchung der Probe sabotierte. Wer wusste überhaupt davon? Ein Leck in der Pathologie?
»Ich rieche eine ganz üble Geschichte, mein Lieber. Und ich verspreche dir, nicht locker zu lassen, bis wir Gewissheit haben, wer oder was unseren Lorenzo auf dem Kerbholz hat.«
»Darauf hat die Welt gewartet. Eine Sensationsstory über Lorenzos Tod!«, rief Michel entrüstet. »Das wirst du schön bleiben lassen.«
Sein schwieriger Freund lachte bitter auf, hängte die Kameratasche über die Schulter und kehrte ihm den Rücken. »Ich schicke dir die Fotos«, rief er, bevor er ihn aus den Augen verlor.
KAPITEL 2
Hôpital Pitié-Salpêtrière, Paris
D r. Eleonora Bruno fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut. Wie jedes Mal, wenn sie einen Befund unterzeichnete, den sie und ihre Leute zwar nach allen Regeln der medizinischen Zunft korrekt ermittelt hatten, der aber ihrer inneren Überzeugung widersprach. Sie leitete die Psychiatrie im Hôpital Pitié-Salpêtrière seit vielen Jahren, war gewohnt, Verantwortung zu übernehmen, und doch fielen ihr solche Entscheide immer wieder schwer. Es ging um Menschen, um ein Menschenleben, um genau zu sein. Die Akte vor ihr auf dem Schreibtisch betraf einen suizidgefährdeten jungen Familienvater. Die letzten Tests und Gespräche verliefen ausnahmslos positiv. Der Patient konnte die Medikamente nach und nach absetzen. Sie musste ihn als geheilt entlassen. Der Befund war korrekt, und doch zögerte sie mit der Unterschrift. Die hitzigen Diskussionen mit Bastien Muehlberg, ihrem Stellvertreter, dem arroganten Perfektionisten aus dem Elsass, klangen ihr noch immer in den Ohren. Wie fast immer bei schwierigen Entscheidungen vertrat er leidenschaftlich die gegensätzliche Meinung. Ihr war klar, dass er mit ihr spielte. Er ließ sie bei jeder Gelegenheit spüren, wie einsam es war, oben an der Spitze. Aber er war ein brillanter Psychiater. Wie sie, dachte sie schmunzelnd. So leicht konnte sie niemand verunsichern. Nein, ihr Zögern hatte nichts mit dem über-perfekten Dr. Muehlberg zu tun, es kam von innen.
Sie gab sich einen Ruck. Entschlossen setzte sie ihren schwungvollen Namenszug unter den Befund und klappte die Akte zu. Sie atmete erleichtert auf und schaute zum Fenster hinaus auf den Park. Die Sonne, die den schönen Hauch Schnee allzu schnell wieder weggeschmolzen hatte, war untergegangen. Zeit, aufzubrechen.
Es klopfte. Die Tür ging auf. Eine junge Frau steckte den Kopf durch den Spalt und rief fröhlich:
»Auf Wiedersehen, Doktor, ich geh jetzt.«
»Gute Nacht, Charlotte«, antwortete sie wie jeden Abend. Schwester Charlotte Bertrand war ein Glücksfall. Sie redete vielleicht etwas viel, aber ihr sonniges Gemüt wirkte auf manchen Patienten besser als Prozac. Die Pflegerin hatte die Tür schon fast wieder geschlossen, als sie fragte: »Ist es ruhig in Nummer neun?« Ein langgezogenes »Jaaah« war die Antwort und die Tür fiel ins Schloss.
Zufrieden legte sie die geschlossene Akte ins Ausgangsfach. Alles in allem doch ein guter Tag. Sie konnte ihre Praxis müde, aber mit ruhigem Gewissen verlassen. Auch wenn sie manchmal an sich zweifelte oder an schier unlösbaren Aufgaben verzagen wollte, sie liebte ihre Arbeit, diesen kahlen Raum mit dem chaotischen Büchergestell und dem abgenutzten, pastellblauen Liegesofa. Ihre bescheidene Praxis war eine der angesagten Adressen der von seelischen Qualen gegeißelten Pariser Hautevolee. War man bei ihr in Behandlung, machte man kein Geheimnis daraus. Im Gegenteil, man war stolz darauf, auch in dieser Beziehung dazuzugehören, ähnlich der stolzen Bindung hirnloser Hofschranzen des niederen Geldadels an ihren Schönheitschirurgen. Ausschließlich Pierre oder Auguste durfte sie liften, die Tussis, partout nicht von Auguste oder Pierre.
Obwohl mit akademischen Ehren gesegnet, verdankte sie diesen Status ausschließlich dem klingenden Namen ihres geschiedenen Gatten. Da hatte sie keine Illusionen. Er war ein direkter Abkömmling des Maurice Barrès, des einflussreichen Schriftstellers und verbissenen Nationalisten, des Unsterblichen, der den vierten Stuhl der Académie française zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts als Sechzehnter besetzt hatte. Der Name Barrès klang selbst heute noch nach, nachdem sie ihn vor Jahren bei der Scheidung abgelegt hatte. Na ja, vielleicht half auch ihr in diesen Kreisen exotisch wirkender Mädchenname Bruno, der fatal an die Gattin des ehe-maligen Präsidenten
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