Natürliche Selektion (German Edition)
verteilte ein paar Tropfen rund um die Probe in der Petrischale. Sofort flachte sich die seltsame Schnecke ab, verbreiterte sich zu einem Gallertklecks. Die Stelle, die sich am nächsten bei einem der Tropfen befand, begann sich auszubuchten. Eine Art Finger wuchs aus der Probe und verband sich mit dem Tropfen. Dann zog sich der Auswuchs wieder langsam zurück. Der Tropfen war verschwunden. Das Ding hatte die Nährlösung vollständig in sich aufgesogen. Weitere Finger streckten sich plötzlich nach allen Seiten, bis die seltsame Amöbe keinen Traubenzucker mehr fand. Nach wenigen Sekunden war der Spuk vorbei, und in der Mitte der Schale saß wieder die hässliche Schnecke. Michel fehlten die Worte. Schockiert schaute er zu, wie die Pathologin den Tisch aufzuräumen begann.
Draußen klingelte ein Telefon. Sie stellte die Nierenschale mit Lorenzos Hippocampus ärgerlich beiseite und entfernte sich mit der Bemerkung: »Bin gleich zurück.«
Gedankenverloren starrte Michel auf die Schale mit dem unerklärlichen Befund. Was ist dein Geheimnis? , fragte er im Stillen. Er konnte nicht untätig warten, bis ein offizieller Befund vorlag, ein unbefriedigender Befund, der nichts erklären würde, wie er annahm. Sein Blick fiel auf den Glasschrank an der Wand, und plötzlich wusste er, was zu tun war. Blitzschnell schnappte er sich eines der leeren Probengläser aus dem Schrank, entnahm dem Gewebe in der Nierenschale eine Probe, wie es die Pathologin getan hatte, steckte sie ins Glas, verschloss das Röhrchen und ließ es in der Tasche seines Mantels verschwinden. Gerade rechtzeitig, bevor die Pathologin zurückkehrte. Er bedankte sich bei Dr. Lombard und verließ die kühle Unterwelt mit zufriedenem Schmunzeln. Seine Probe würde bald von einem ehemaligen Kommilitonen untersucht werden, dem er zutraute, der Wahrheit auf die Spur zu kommen.
Parc De La Villette, Paris
Die frischgebackene Laborantin war nicht ganz bei der Sache. Ihre Gedanken kehrten immer wieder zur Clique zurück, die jetzt im ›Folles‹ den Feierabend einläutete. Sie war der Junior bei UBTL. Klar, dass niemand anders als sie die Zusatzaufgabe neben dem ohnehin schon vollen Arbeitspensum erledigen musste. Griesgrämig packte sie die Probe aus der Salpêtrière aus und studierte die Anweisungen des Biologen. Die Liste der Tests war ellenlang, und mit jeder Zeile sank ihre Motivation tiefer. Daran änderte auch der Blick aus dem Fenster auf die Lichter der Büros und Labors gegenüber an der Promenade nichts. Viele der Institute hier in der Cité des Sciences et de l’Industrie waren Start-up Firmen und Spin-offs der Universitäten, in denen zu jeder Tages- und Nachtzeit und meist auch am Wochenende keine Ruhe einkehrte. Nein, sie war bei Gott nicht die Einzige, die hier noch arbeitete, aber das tröstete sie nicht über den verlorenen Abend mit ihren Freundinnen hinweg.
Mit dem Auftrag des Biologen in der Hand ging sie zum Chemikalienschrank und stellte die Ampullen der Lösungen und Salze zusammen, die sie für die Testreihe brauchte. Sie legte sechs kleine Petrischalen und die Röhrchen für die automatische Analyse bereit und wollte mit dem Zerteilen der Probe beginnen, als das Telefon klingelte. Sie ließ es eine Weile läuten, in der vagen Hoffnung, dass sich doch noch jemand anders fände, der antwortete. Es läutete weiter, bis sie sich entschloss, den Hörer abzuheben, da legte der Anrufer auf. Sie widmete sich wieder ihrer Arbeit, aber die Ruhe währte nicht lange.
»UBTL, Sie wünschen?«, schnauzte sie entnervt in den Hörer, als es das zweite Mal klingelte.
Eine männliche Stimme meldete sich: »Guten Abend, ich rufe an wegen der Gewebeprobe aus der Salpêtrière.«
»Wer sind Sie, was wollen Sie?«, fragte sie verdutzt. Sie verspürte Lust, gleich wieder aufzulegen.
»Ich rufe im Auftrag der Pathologie an. Haben Sie die Probe schon untersucht?«
Wer war dieser Spaßvogel? War er dafür verantwortlich, dass sie die halbe Nacht hier verbringen durfte? Sie beschloss, ihn ein wenig leiden zu lassen und spielte die Unwissende. »Von welcher Probe sprechen Sie?«
Sie hörte seine Antwort nicht mehr, denn sie ließ den Hörer erschrocken fallen und sprang auf. Laute Stimmen und schwere Schritte näherten sich vom Eingang her. Die Tür zum Labor sprang auf. Zwei kräftig gebaute Männer, Schwergewichtsboxer in schwarzen Anzügen, kamen auf sie zu. Hinter ihnen folgte der Nachtwächter vom Empfang, kleinlaut und verängstigt. Einer der Fremden
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