Natürliche Selektion (German Edition)
schwenkte einen Ausweis vor ihrer Nase und bellte sie an:
»Gesundheitsamt. Sie verwenden höchst gefährliches Material aus der Pathologie des Hôpital Pitié-Salpêtrière. Dazu haben Sie keine Konzession. Sie müssen uns diese Probe aushändigen!«
Blass und mit weichen Knien hielt sich die Laborantin am Tisch fest. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, musste immerzu in dieses kantige Gesicht starren, reglos wie das Kaninchen vor der Schlange.
»Die Probe! Wir haben nicht ewig Zeit.«
Sie rückte zitternd zur Seite, drehte sich so, dass sie das kleine Paket mit der Probe erreichen konnte, ohne die schwarzen Männer aus den Augen zu lassen. Zögernd, vorsichtig streckte sie ihnen das Päckchen entgegen. Sie sagte nichts. Ihr Rachen und Mund waren so trocken, dass sie wohl auch kein verständliches Wort hervorgebracht hätte. Der Boxer mit dem Ausweis riss ihr die Probe aus der Hand, kontrollierte Verpackung und Beipackzettel und steckte sie befriedigt ein. Er nickte seinem Begleiter zu, sie drehten sich auf den Absätzen und stampften aus dem Labor. »Sie hören von uns«, war das Letzte, was die verängstigte Laborantin und der verwirrte Wachmann von den schwarzen Männern vernahmen. Gedankenverloren und klopfenden Herzens legte die junge Frau den Telefonhörer auf die Gabel und floh aus dem Labor. Die leeren Schalen, Ampullen und Röhrchen blieben unbenutzt liegen.
Am anderen Ende der Leitung pfiff Alain Chevalier, Klatschreporter und falscher Pathologe, leise durch die Zähne, als die Verbindung unterbrochen wurde. Er hatte mehr gehört als erhofft, und was er vernommen hatte, passte perfekt zu seiner Story über Lorenzos unerklärlichem Abgang.
Cimetière Du Père-Lachaise, Paris
Noch stiller als sonst lag die endlose Kette der Monumente, Gräber, Wäldchen, Teiche, Alleen und toten Fontänen im Morgenlicht des kalten Novembertages. Über Nacht war die Temperatur fast bis auf den Gefrierpunkt gesunken, ungewohnt und völlig überraschend für diese Jahreszeit. Eine zarte Schneedecke hatte sich über den Friedhof im Osten der Stadt gelegt, verschleierte gnädig Kitsch und Größenwahn und verwandelte den Père-Lachaise für kurze Zeit zurück in das ergreifende Sinnbild ewiger Ruhe, das er einmal war. Eine lange Reihe schwarz verhüllter Gestalten strömte über den Chemin des Anglais zum offenen Grab Lorenzo Riccis. Die eindrückliche Zahl von Trauergästen, die seinem Freund die letzte Ehre erwiesen, überwältigte Michel. Er kannte Lorenzo seit der Zeit auf dem Gymnasium und wusste doch kaum etwas über seine Herkunft und Familiengeschichte. Erst nach seinem Tod hatte Alain ihn aufgeklärt. Lorenzo Ricci war der letzte Spross einer großen Familie, die zur Kaiserzeit zu Geld und Ehren gekommen war, ihre Güter in den ersten Jahren der Republik nach dem Deutsch-Französischen Krieg jedoch schnell wieder verloren hatte. Geblieben war der Familie die Ehre und ihr guter Name. Lorenzos Eltern starben früh bei einem Verkehrsunfall und der Onkel, der ihn aufzog, opferte seinen letzten Centime, um dem jüngsten Ricci die gebührende Bildung zu berappen. Möglich, dass nicht wenige der Trauergäste den Weg hierher gefunden hatten, weil die Klatschpresse diese bittersüße Geschichte in den letzten Tagen etwas allzu breit geschlagen hatte.
Während der Priester den Segen sprach, ließ Michel den Blick unauffällig über die Trauergemeinde schweifen. Zu seinem Erstaunen erkannte er eine Gruppe von Frauen, deren Namen er nicht kannte, deren Gesichter sich jedoch seinem fotografischen Gedächtnis eingeprägt hatten: Schwestern jeden Alters aus der Salpêtrière. Die junge Hilfsbereite war auch dabei und beobachtete ihn, wie er bestürzt bemerkte. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was die Damen mit der Familie Ricci verband.
»Hast du gesehen? Dein Fanclub ist auch hier«, flüsterte ihm Alain ins Ohr.
»Lass die blöden Witze!«
Der Reporter ließ nicht locker. Er versetzte ihm einen freundschaftlichen Rippenstoß und stichelte: »Sie himmeln dich schon die ganze Zeit an mit ihren Mandelaugen. Wer sind die Schönen?«
Michel zog es vor, ihn zu ignorieren. Alain wandte sich grinsend ab, löste sich von der Menschentraube und zückte wieder seinen Fotoapparat.
Die Zeremonie war beendet. Einer nach dem andern ergriffen die Trauernden die silberne Schaufel, streuten eine Handvoll gesegnete Erde auf den Sarg und reihten sich dann in die lange Schlange der Kondolierenden, um Michel und seinen
Weitere Kostenlose Bücher