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Natürliche Selektion (German Edition)

Natürliche Selektion (German Edition)

Titel: Natürliche Selektion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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doch die Knie gaben nach. Sie taumelte unsanft aufs Sofa zurück und streckte sich wieder aus. Alles drehte sich in ihrem Kopf. Die wunderbare Erscheinung hatte sich verflüchtigt, aber die Hände des jungen Mannes fühlte sie immer noch. Sie glaubte, seinen sanften Druck in ihrem Kreuz zu spüren. Er hatte auf Anhieb die empfindlichste Stelle ihres Körpers getroffen. Ohne Absicht, aber mit traumwandlerischer Sicherheit hatten seine Finger den verbotenen Punkt zwischen ihrem vierten und fünften Lumbalwirbel erwischt, und dem hatte sie nichts entgegenzusetzen, selbst wenn sie Herrin ihrer Sinne gewesen wäre. Es geschah, was geschehen musste: heiße Lava strömte durch ihren Körper, Feuer brannte zwischen den Beinen, schoss in den Kopf und zurück. Ein Orgasmus, wie sie ihn seit Jahren nicht erlebt hatte, entlud sich wie ein urzeitliches Gewitter in ihrem Hirn, vertrieb den letzten Rest ihres rationalen Denkens. Ihr bekanntes Universum stürzte in sich zusammen, endete in einem neuen, stillen Urknall, der sie in ein jungfräuliches Paralleluniversum schleuderte, viel zu heiß für klare Gedanken und kritische Fragen.
     
    Der erste Morgen im neuen Universum begann spät. Der Wecker vermochte ihren tiefen Schlaf nicht zu stören. Sie schlug die Augen erst auf, als sie ein Sonnenstrahl traf, der sich im Fenster gegenüber spiegelte. Ein dünnes Stimmchen, vergraben in ihrem Unterbewusstsein, wollte ihr einreden, sich zu sputen, in wilder Panik aus dem Bett zu springen, die verlorene Zeit aufzuholen, aber es fand kein Gehör. Statt sich aufzuregen, lächelte sie dem Zifferblatt des Weckers freundlich zu und schälte sich gemütlich aus den warmen Laken. Sie duschte ausgiebig, machte sich besonders sorgfältig zurecht, trat endlich anderthalb Stunden später als sonst auf die Strasse.
    Der frische Wind sorgte für einen wolkenlosen Himmel. Die oberen Geschosse der weißen Häuser an der Rue du Moulin des Prés leuchteten in der Morgensonne. Schon tausend Mal hatte sie alles gesehen, und doch strahlten die Farben heute intensiver, rollte der Verkehr leiser als je zuvor. Sogar die Leute, denen sie begegnete, machten freundliche Gesichter. Sie bemerkte Hassans ratlosen Blick nicht, als sie das erste Mal, seit sie sich kannten, an seinem Kiosk auf der Place d’Italie vorbeiging, ohne den ›Figaro‹ zu kaufen, ja ohne ihn auch nur zu grüßen. Genauso ließ sie das Kaffee mit den göttlich duftenden Croissants an der Ecke zum Boulevard de l’Hôpital links liegen. Ihre fünf Sinne waren vollauf damit beschäftigt, die Welt neu zu entdecken, oder eher: die neue Welt zu entdecken. Sie schlenderte die paar hundert Meter auf dem Boulevard zum Spital, als ginge sie diesen Weg zum ersten Mal.
    Froh, keinem ihrer Mitarbeiter begegnet zu sein, schloss sie die Tür zu ihrer Praxis leise hinter sich. Wie gewohnt öffnete sie zuerst einen Fensterflügel, um die frische Morgenluft hereinzulassen, den Mief loszuwerden, der ihr heute besonders hartnäckig in die Nase stieg. Sie hängte den Mantel an die Garderobe und setzte sich an ihren Schreibtisch. Gedankenverloren betrachtete sie das Foto des Mädchens mit ihren Augen neben dem Telefon. Es hätte sie nicht im Mindesten überrascht, das Bild des jungen Mannes im Rahmen zu sehen, das sich seit ihrer ersten Begegnung wie ein unauslöschliches Wasserzeichen über ihr Bewusstsein legte. Kaum wagte sie das Sofa gegenüber anzusehen, wie es vorwurfsvoll an der Wand klebte, die fette, blaue Lästerzunge.
    Der aufdringliche Summton der Gegensprechanlage holte sie schlagartig in ihr altes Leben zurück. Die Leichtigkeit fiel von ihr ab, die Schwerkraft hatte sie wieder, drückte sie erbarmungslos in ihren Sessel. »Mein Gott, was ist mit dir geschehen, was hast du dir dabei gedacht?«, seufzte sie matt, bevor sie die blinkende Taste drückte.
    Michelle, ihre Sprechstundenhilfe, Mädchen für alles, gewissenhafte Hüterin ihrer Zeit, begrüßte sie begeistert: »Wunderbar, dass Sie da sind, Doktor. Die Visite hat bereits begonnen. Dr. Muehlberg meinte, ...«
    »Ja, ist schon in Ordnung«, unterbrach sie unwirsch. »Er kann die Visite ohne mich durchführen.« Sollte der Narziss für einmal als Chefarzt glänzen, sie hatte nichts dagegen. Ihr war jetzt wichtiger, mit dem Schicksal zu hadern, das Wasserzeichen in ihren Neuronen loszuwerden.
    »Gut, kann ich dann gleich mit den Terminen vorbeikommen?«
    »Wenn es sein muss.« Mürrisch legte sie auf. Ihr Zustand bereitete ihr allmählich

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