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Natürliche Selektion (German Edition)

Natürliche Selektion (German Edition)

Titel: Natürliche Selektion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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erinnerte.
    Sie erhob sich, verschloss den Aktenschrank und freute sich auf das Glas Rotwein bei guter Musik in ihrer gemütlichen Dachwohnung auf der Butte. Schade, dass sie die Abende nicht mehr beim Vogelgezwitscher auf der Terrasse unter der Platane verbringen konnte. Sie griff zur Handtasche, als es nochmals klopfte.
    »Noch was, Charlotte?«, fragte sie und wartete, aber diesmal blieb die Tür geschlossen. Verwundert öffnete sie.
    »Doktor Bruno? Entschuldigen Sie die Störung. Ich sah noch Licht, da dachte ich, ...«
    Mehr hörte sie nicht. Vor ihr stand das hinreißende Bild eines Mannes, wie es selbst ihre wildesten Träume vollendeter nicht malen könnten. Die Inkarnation all ihrer weiblichen Sehnsüchte lächelte ihr aus dem Türrahmen ihrer Praxis entgegen. Unfähig, sich zu rühren, zu sprechen oder auch nur zu denken, starrte sie die Erscheinung an. So etwas gibt es nicht, du träumst! , hörte sie den kümmerlichen Rest ihres Bewusstseins zaghaft aufbegehren. Sie erinnerte sich schwach an viele ähnliche Geschichten aus ihrer Praxis. Sie hatte sie nie wirklich geglaubt, und die Zeit bestätigte ihre Skepsis fast ausnahmslos. Liebe auf den ersten Blick nahm oft ein traumatisches Ende. Doch was wollten die paar verlorenen Gedanken gegen die animalischen Gefühle ausrichten, die der junge Besucher in ihr entfesselte?
    Die bestandene, reife Ärztin, Chefin der Psychiatrie, begann sich unaufhaltsam aufzulösen. Die Kulisse der perfekt choreografierten Barockoper ihres bisherigen Lebens als angesehenes Mitglied der feinen Pariser Gesellschaft, reich geschieden, mit studierter Tochter, wie man es erwartete, diese ganze schöne Welt fiel beim Anblick des jungen Mannes in ihrer Tür einfach in sich zusammen. Sie fühlte noch, wie ihre Knie nachgaben, dann sank sie kraftlos in die Arme ihres Besuchers.
    Michel blieben die Worte im Halse stecken. Er konnte seinen Blick nicht vom Gesicht dieser Frau abwenden, von ihren strahlend blauen Augen, mit denen sie ihn neugierig und prüfend zugleich musterte. Diese Nase von klassischer Schönheit über den weichen, zart geschminkten Lippen, der Hauch von verlegenem Rot auf ihren Wangen, das seiden glänzende, goldene Haar wie von einer frischen Brise zerzaust. Femme fatale und verletzliches Reh zugleich, atemberaubend, als wäre sie eben Botticellis berühmten Gemälde entstiegen.
    In einem unbewussten Reflex hielt er sie im letzten Augenblick fest, als sie ihm entgegen sank. Er erwachte aus seinem verzückten Dämmerzustand. Ein Schwächeanfall, dachte er. Ausgerechnet jetzt, da er sich nur kurz als neuer Kollege vorstellen wollte. Er dachte ganzheitlich, legte Wert auf reibungslose Zusammenarbeit zwischen Psychiatrie, Neurologie und Neurochirurgie, die sich letztlich alle intensiv mit dem wichtigsten menschlichen Organ befassten. War die schlanke Frau unterzuckert oder einfach überarbeitet? Er trug sie kurzerhand zum Sofa und bettete sie behutsam aufs Polster. Sie blieb reglos mit geschlossenen Augen liegen.
    »Dr. Bruno, hören Sie mich?«, fragte er, während er ihren Puls fühlte. Seine Hand zuckte zurück, als hätte er sich verbrannt, denn der Puls war keineswegs schwach, wie er erwartet hatte. Ihr Herz pochte, als wäre sie gerade vom Ergometer des Kardiologen gestiegen. Sie atmete heftig. Jetzt fiel ihm auch die intensivere Rötung ihrer Wangen auf. Beunruhigt nahm er ihre Hand und sprach sie nochmals an: »Dr. Bruno?« Da schlug sie die Augen auf, sah erschrocken zu ihm auf und löste sich hastig aus seinem Griff.
    »Entschuldigung«, sagte sie tonlos. »Tut mir leid, ich ...« Sie setzte sich auf, griff sich an die Stirn und murmelte ärgerlich, ohne ihn anzusehen: »Ich weiß nicht, was mit mir los ist.« Sie entschuldigte sich nochmals, räusperte sich und fragte plötzlich ganz sachlich:
    »Wer sind Sie?«
    Ihr Zustand schien sich zu stabilisieren, bemerkte Michel erleichtert. Er stellte sich kurz vor und fügte schnell hinzu: »Ist vielleicht besser, wenn wir uns ein anderes Mal unterhalten.«
    Sie warf ihm einen beinahe scheuen Blick zu und nickte. »Ja – ist – sicher besser so, tut mir leid.«
    »Ich rufe Sie an«, antwortete er lächelnd, bevor er die Tür leise hinter sich schloss. Den Hauch ihres aufregenden Duftes nach Zitrusfrüchten und wilden Erdbeeren nahm er mit in seiner Nase.
    Mit gläsernen Augen glotzte Eleonora die Tür noch lange an, als müsste sie ihr erklären, was um alles in der Welt eben geschehen war. Sie versuchte aufzustehen,

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