Natürliche Selektion (German Edition)
als wären die ausgemergelten Körper nur dazu da, die Hirne in den Köpfen dieser Geschöpfe zu versorgen. Das Schlimmste aber waren die dicken Kabelstränge, die in den leeren Augenhöhlen steckten. Falsch, das Schlimmste war, dass diese menschlichen Überreste lebten.
Sie fanden Leo auf einer Liege hinter den Särgen. Reglos, aber auch sie lebte. Die Bergung, die Fahrt im Rettungswagen, die Stunden bangen Wartens im Spital, das alles erlebte Audrey wie im Traum.
Sie stand immer noch neben sich, als Leo aufwachte und verwundert fragte: »Was ist passiert?«
Audrey küsste sie sanft auf die Stirn. Ein gequältes Lächeln huschte über ihre Lippen. Sie wusste nicht, sollte sie Leo ihre Unvorsichtigkeit vorwerfen oder ihr danken. Schließlich sagte sie: »Du hast meinen Fall gelöst. Das ist passiert.« Der Direktor von RDC hatte endlich ausgepackt. Der Colonel hatte die sechs Skelette in seiner Folterkammer als menschliche Versuchskaninchen benutzt. Seit ziemlich genau zehn Jahren.
»Was?«, rief Leo entsetzt aus.
»Du hast richtig gehört. Zehn Jahre ist es her, seit die Reha-Klinik auf Vieques geschlossen wurde und die Leichen der Veteranen verschwunden sind. Jetzt sind sie wieder aufgetaucht, als lebende Leichen.«
Leo schloss die Augen. Lange lag sie so da und schwieg, dann fragte sie plötzlich: »Der Colonel?«
Audrey zuckte die Achseln. »Wir sind dran«, antwortete sie unsicher. Dieser Fall war noch nicht gelöst.
KAPITEL 13
Butte Aux Cailles, Paris
D as Husten und Kratzen kam aus der Küche. Ihre Tochter brauchte den Kaffee heute früher als sonst. Leo wälzte sich aus dem Bett, auf dem sie schon seit einer Ewigkeit wach gelegen hatte. Audrey saß frisch herausgeputzt am Tisch. Mit dem Schwarzen in der Hand arbeitete sie an ihrem Laptop.
»Gibt’s was Wichtiges?«, fragte Leo müde.
»Bonjour Maman, schlecht geschlafen?»
»Wundert dich das? Mir geht das Bild dieser Schreckenskammer nicht mehr aus dem Kopf. Zehn Jahre, und das bei vollem Bewusstsein. Mir wird gleich wieder schlecht.«
Audrey reichte ihr schweigend die Kaffeetasse.
»Danke, das hilft auch nicht weiter. Habt ihr Muehlberg schon vernommen?«
»Nein, aber er ist sehr bald an der Reihe. Er wird rund um die Uhr observiert. Wir haben das Mailkonto an der UPMC analysiert, von dem aus die meisten Nachrichten versandt wurden.«
»Schön, dann habt ihr ihn ja.«
»Leider nein. Der Benutzer hinter der Mailadresse war ein ehemaliger Student, dessen Konto nie geräumt wurde, eine Leiche, wie wir in Fachkreisen sagen. Unser Freund hat sich dort unbemerkt eingenistet. Unmöglich, den wahren Benutzer zu finden, wenn man keine Falle stellt.«
»Und, habt ihr?«
»Sofort, aber er scheint die Adresse nicht mehr zu benutzen.«
Leo verstand nicht, wie es möglich war, dass sich so viele Spuren einfach in Luft auflösten. Mehr zu sich selbst als zu Audrey sagte sie: »Ich muss noch mal zu Professor Fabre. Er hat mir versprochen, sich beim Oberstaatsanwalt umzuhören. Und der war schließlich auch in Chartres.«
»Das lässt du schön bleiben«, entgegnete Audrey scharf. »Ich werde mit ihm reden. Du bleibst brav zu Hause, wo dich der böse Wolf nicht findet. Lass einfach die Polizei ihre Arbeit machen. Wir kriegen den Kerl, versprochen.«
Sinnlos, sich zu streiten. »Ich gehe duschen«, bemerkte sie, und im Stillen fügte sie hinzu: Versprich lieber nicht zuviel .
Audrey war noch keine fünf Minuten aus dem Haus, unterwegs zur Uni, da klingelte es an der Tür. »Was hast du jetzt wieder vergessen?«, fragte sie spöttisch, während sie die aufschloss. Ihr Puls schnellte in die Höhe, als sie sah, wem sie öffnete.
Der geschniegelte Ex-Kollege Muehlberg stand in der Türöffnung und sagte feierlich, als forderte er sie zum Duell: »Wir müssen reden.«
Sie sprang vor Schreck zur Seite und ließ ihn eintreten. »Ich – wüsste – nicht, worüber«, stammelte sie.
»Hör mir einfach zu, Leo. Bitte.«
Ihr war, als spürte sie einen eisigen Luftzug, als er an ihr vorüberging. Sie überlegte kurz, ob sie Hals über Kopf aus der Wohnung fliehen sollte, aber etwas in seiner Stimme zwang sie, ihm ins Wohnzimmer zu folgen.
»Wollen wir uns nicht setzen?«
Scheinheilig höflich bis zuletzt , dachte sie, blieb stehen und wartete.
»Ich habe dich unzählige Male vergeblich angerufen«, begann er, sachlich, ganz ohne vorwurfsvollen Unterton. »Jetzt musste ich einfach vorbeikommen, um die leidige Angelegenheit aus der Welt zu
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