Natürliche Selektion (German Edition)
Galerie, die offenbar zur Überwachung der Maschinen hinter den dicken Scheiben diente. Die Anlage erinnerte sie an eine ähnliche, um ein Vielfaches größere, die sie im Keller der Salpêtrière gesehen hatte. Ein raffiniertes Blockheizkraftwerk, das gleichzeitig Strom und Wärme erzeugte und den Kühlkreislauf in Gang hielt. Sie wusste jetzt wenigstens, woher das Brummen stammte. So modern und wichtig dieser Maschinenraum sein mochte, er war sicher nicht der Grund für die Geheimniskrämerei.
Sie ging weiter. Die Galerie endete an einer Rampe, die in einer Spirale nach oben führte. Sie nahm nicht an, jemandem zu begegnen. Die Anlage schien ohne menschliches Personal ganz gut zu funktionieren. Trotzdem beschlich sie ein flaues Gefühl, als sie behutsam die Rampe emporstieg. Eine weiß gestrichene Tür versperrte den Zugang zu den Räumen des oberen Stockwerks. ›Zutritt nur für medizinisches Personal‹ stand in dicken, schwarzen Lettern auf einer gelben Tafel. Hört sich wie eine Einladung an , dachte sie und drückte die Klinke.
Der Korridor führte an einem Zimmer vorbei, das als Büro benutzt wurde, wie sie aus Schreibtisch, Computer und Aktenschränken schloss. Eine Glastür verschloss das zweite Zimmer. Die Metalltische, Keramiktröge und Instrumente ließen keinen Zweifel daran, dass dies ein gut bestücktes chemisches Labor war. Ein Stück weiter führte der Flur in einem rechten Winkel zu drei weiteren Räumen, die sich hinter massiven Türen verbargen. Sie öffnete wahllos die mittlere, die den Korridor abschloss und schlug die Tür gleich wieder zu. Nichts weiter als ein Badezimmer. Die beiden andern Türen waren breiter. Breit genug für Spitalbetten , schoss ihr durch den Kopf. Ihr Herz pochte heftiger, als sie die eine aufstieß. Sie betrat einen Vorraum, der in einen Saal führte. Sie erkannte seinen Zweck sofort und blieb mit offenem Mund stehen. Ein Operationssaal. Ihr Atem stockte. Der OP war in hervorragendem Zustand, bestens ausgerüstet und machte keineswegs den Eindruck, lange nicht benutzt worden zu sein. Plötzlich begriff sie, wie gefährlich ihre eigenmächtige Expedition war. Kalter Schweiß trat ihr auf die Stirn. Sie spürte, wie sich ihre Nackenhaare sträubten. Sie wollte weg aus dieser unheimlichen Klinik, aber eine Tür hatte sie noch nicht geöffnet. Nur einen kurzen Blick wollte sie hineinwerfen.
Mit feuchter Hand stieß sie die dritte Tür auf. Im Raum dahinter brannte nur ein schwaches Notlicht, doch es genügte, sie in den schlimmsten Albtraum seit Michels Tod zu stürzen. Ihre Knie gaben nach, und sie hätte das Bewusstsein auch verloren ohne den kaum spürbaren Stich der Spritze in ihrem Nacken.
Audrey hatte fürs Erste genug gesehen. Kendalls Daten lagerten nun doppelt und dreifach gesichert im Netzwerk der Interpol. Die Kollegen waren an der Arbeit.
Ihr Walkie-Talkie erwachte. Der Inspektor rief seine Leute zur Lagebesprechung. Sie packte zusammen und verließ Kendalls Büro mit einem zufriedenen Lächeln.
»Damit nageln wir sie fest«, freute sich der Inspektor nach dem Debriefing. »Diese Fabrik wird nicht so schnell wieder produzieren.«
Davon war sie überzeugt. Die Razzia erwies sich als voller Erfolg, was die Produktion der illegalen Droge betraf. Das Rätsel des verschwundenen Koks war ein aufregender Bonus, mit dem sich die Spezialisten vor Ort zweifellos gründlich beschäftigen würden. Kendall und sein Direktor waren erledigt, der Colonel endgültig als Strippenzieher entlarvt. Aber noch immer fehlte eine vernünftige Identifikation. Nur sein alter Name Garnier war bekannt, den er vor Jahren abgelegt hatte. Sie hoffte wider besseres Wissen, die Nachforschungen nach seinem Flugzeug würden zu ihm führen. Oder das Phantombild aus den verwirrenden Beschreibungen der Zeugen von RDC. Das alles dauerte ihr einfach zu lange, und ihrer Mutter wohl auch.
»Wo ist Leo?«, fragte sie unvermittelt.
Der Inspektor schaute sich verblüfft um. »Ich dachte – verdammt, wo ist die Frau?« Niemand schien auf sie geachtet zu haben. Mit hochrotem Gesicht murmelte er: »Ich verstehe das nicht. Sie war mit uns in der Lagerhalle.«
Audrey hörte nicht mehr zu. Sie hielt das Telefon ans Ohr, während sich ihre Miene zusehends verfinsterte. Nach einer Weile steckte sie es wieder ein. »Mailbox«, knurrte sie mit verhaltenem Ärger. Was dachte sich Leo dabei? Dies war eine Polizeiaktion, verflucht noch mal. Sie empörte sich ebenso sehr über sich selbst wie über ihre
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