Natürliche Selektion (German Edition)
sattgrünen Wiesen, die blühenden Büsche und der leuchtend rote Mohn, der den Feldweg säumte, verwandelte die jurassische Hochebene über Le Noirmont in ein liebliches Paradies. Nichts erinnerte mehr an das sibirisch kalte Wintermärchen ihres letzten Besuchs. Je näher das alte Bauernhaus rückte, desto langsamer fuhr Leo. Sie hielt angestrengt Ausschau nach Professor Fabres Wagen und erwartete jeden Augenblick den Warnschuss dieses verrückten Napoleon. Doch alles blieb ruhig. Das Haus wirkte verlassen wie damals.
Sie parkte Michels Porsche vor dem großen Tor, stellte den Motor ab und wartete eine Weile unschlüssig im Wagen. Hatte sie sich geirrt? War dies doch nicht der sichere Ort des Rückzugs für den Professor? Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken beim Gedanken, Audrey keinen Schritt näher zu sein als vor Stunden in Paris. Vielleicht lebte sie längst nicht mehr, und der wahnsinnige Colonel entkam ihr einmal mehr. Diesmal endgültig.
Als sich noch immer nichts regte, stieg sie aus und näherte sich vorsichtig dem Tor. Sie zog entschlossen am Türgriff. Ihr Herz stand für einen Augenblick still, als das schwere Tor mit unerwarteter Leichtigkeit aufschwang. Das alte Haus erwartete sie. Sie schlüpfte schnell durch die Öffnung und stand in einer düsteren Scheune oder Garage. Im schwachen Licht, das durch den Spalt hereinfiel, sah sie, dass sie sich doch nicht getäuscht hatte. Eine weiße Ambulanz versperrte den Blick auf den Wohnungseingang. Nicht Damiens Auto, wie sie erwartet hatte, aber ohne Zweifel der Wagen, mit dem er vor kurzem hier eingetroffen war. Die Motorhaube war noch warm. Ein Rettungswagen! Ihr Atem stockte, als sie an Audrey dachte. Sie riss hastig die Hecktür auf und schaute hinein, auf das Schlimmste gefasst. Gott sei Dank, der Wagen war leer. Sie wandte sich unendlich erleichtert ab, da blieb ihr Herz einmal mehr stehen.
Der Professor stand vor ihr. Im schummrigen Licht sah sie, wie er freundlich lächelte, als er sagte: »Sie enttäuschen mich nicht, Docteur. Ich habe erwartet, dass Sie bald hier eintreffen.«
Sie kämpfte die drohende Panikattacke nieder. Es gelang ihr, äußerlich ruhig zu bleiben. Sie ignorierte seine zynische Begrüßung und fragte nur: »Wo ist sie?«
»Im Haus.« Er zeigte auf die offene Wohnungstür. »Nach Ihnen«, sagte er mit dem eingefrorenen Lächeln auf den Lippen.
Ihre Hand suchte unauffällig nach dem Telefon in ihrer Tasche, während sie durch den Korridor auf das Licht zuging. Sie wollte sich daran festhalten wie an einem lebensrettenden Seil, aber sie griff ins Leere. Kein Handy. Sie war von der Umwelt abgeschnitten. Die Erkenntnis trieb ihren Puls weiter in die Höhe. Allein mit diesem Monster auf seinem abgeschiedenen Hof. Unfähig, Hilfe für ihre sicherlich traumatisierte Tochter herbeizurufen. Dümmer hätte sie sich kaum anstellen können. Die Wut kochte in ihr hoch, doch der Arger verflog in der gleichen Sekunde, als sie ins Wohnzimmer trat. Audrey lag ausgestreckt auf dem Boden, reglos, starrte sie mit glasigen Augen an. Mit einem erstickten Schrei fiel sie neben ihr auf die Knie.
»Audrey, Kleines, was hat er ...«
Weiter kam sie nicht. Sie spürte einen feinen Stich im Hals, fuhr herum, wollte das lästige Insekt wegwischen, aber es war zu spät. Die Kraft in ihren Muskeln ließ rasch nach. Ihr Körper schien sich mit rasender Geschwindigkeit in nichts aufzulösen. Sie fühlte keine Arme mehr, keinen Rumpf, keine Beine. Im Nu lag sie wie Audrey am Boden, sah, wie der Professor, der sich Colonel nannte, die Spritze mit zufriedenem Schmunzeln weglegte. »Pavulon«, wollte sie sagen, doch auch ihre Kehle und Zunge existierten nicht mehr. Die Symptome waren eindeutig. Er hatte ihr Pavulon, Pancuronium, injiziert, ein Muskelrelaxans, wie man es in der Anästhesie und bei der Todesspritze einsetzte. Zuviel davon, und sie wäre in wenigen Minuten tot. Wie Audrey? Die Bewegungsunfähigkeit trieb sie beinahe in den Wahnsinn. Ohne jede Gegenwehr war sie ihm vollkommen ausgeliefert.
»Die Dosis ist nicht letal«, bemerkte er trocken, während er einen Stuhl so zurechtrückte, dass sie ihm direkt in die Augen sehen musste. Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Er schien seine Gedanken zu sammeln, dann begann er: »Alors Mesdames, jetzt hören Sie mir in Ruhe zu.«
So aufgeregt hatte Bauer Durand den Polizeikommandanten Matthis noch nicht erlebt. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn sein alter Bekannter leibhaftig aus dem
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