Natürliche Selektion (German Edition)
Wohnzimmer.
»Sieh da, sie hat mir eins übrig gelassen!«, rief er erfreut, als er sich mit seinem Kaffee zu ihr setzte und in die Tüte griff.
Sie blickte kurz von ihrer Lektüre auf und meinte trocken: »Solltest du nicht besser ein Ei essen?«
»Die stimulierende Wirkung von Eiweiß und Vitamin D wird maßlos überschätzt, meine Liebe. Überdies weiß ich ohnehin nicht wohin mit meinem luststeigernden Dopamin, solange dein kleines Rotes unter dem Morgenmantel hervorguckt.«
Schnell schlug sie die Enden des Satinumhangs wieder übereinander. Sie musste sich erst wieder daran gewöhnen, die Wohnung mit jemandem zu teilen, wenigstens hin und wieder, wie sie hoffte. Er nahm den Zeitungsbund vom Couchtisch, den sie zur Seite gelegt hatte. Darunter lag ein offener Umschlag. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie er stutzte, das Kuvert aufhob und die Karte, die daraus hervorschaute, ohne Zögern herauszog.
»Madame besitzen ein Abonnement der Oper«, schmunzelte er. »Dacht’ ich’s doch.« Er betrachtete das Ticket genauer und rief überrascht aus: »Salomé, für gestern Abend!«
»Hab ich ganz vergessen«, brummte sie und las weiter.
»Ausgerechnet die Salomé, Leo. Wie bezeichnete doch unsere Literaturprofessorin die Geschichte mit größter Abscheu? Ein orgiastischer Abstieg in die Hölle in einem einzigen Akt, oder so ähnlich. Die dekadenteste Oper, die je komponiert wurde. Die hättest du auf keinen Fall verpassen dürfen.«
Sie legte die Zeitung beiseite, rückte ganz nah an ihn heran, dass er ihren heißen Atem spüren konnte und raunte ihm ins Ohr: »Dekadent, hmm? In dieser Hinsicht hat mir die Oper hier auch ganz gut gefallen, und dir?« Seine Antwort war ein leidenschaftlicher Kuss, dem sie sich nur mit Mühe wieder entzog, bevor er ihre Sinne ganz einnebelte. Sie stieß ihn sanft zurück und schlug ihre Zeitung wieder auf. Sie sah die seltsamen Bilder auf der dritten Seite. Neugierig las sie den Kommentar und rief entsetzt: »Ekelhaft!«
Michel zuckte betroffen zusammen. »Wie – was – hab ich was falsch gemacht?«, stammelte er.
»Nein«, beruhigte sie lächelnd. »Nicht du, diese Fotos. Sieh dir das an!« Beim ersten Blick auf die Seite schien er zu wissen, worum es ging. Er las den Artikel mit steinerner Miene. Seine aufgekratzte Stimmung verflog augenblicklich. Sie sah ihm an, wie sehr ihm der Artikel zu schaffen machte. Die reißerische Überschrift war typisch für den ›Parisien‹, aber sie sagte ihr nichts: »Was hat Lorenzo Ricci getötet?«, stand in fetten Lettern über den scheußlichen Bildern. »Wer ist Lorenzo Ricci?«, fragte sie endlich zaghaft, um sein bleiernes Schweigen zu brechen. Sie erschrak, als sie seine traurigen Augen erblickte.
»Lorenzo ist – war – einer meiner Freunde, mit denen ich die paar Tage im Jura verbracht habe.« Er war offensichtlich weit weg mit seinen Gedanken. Es dauerte eine Weile, bis er weitersprach: »Ich habe dir gestern nicht alles erzählt.« So erfuhr sie nach und nach den letzten Teil der Geschichte mit dem abrupten Ende der Idylle im abgelegenen Bauernhaus. Er versuchte es geschickt zu verbergen, aber sie erkannte, dass er das Trauma des Ereignisses noch nicht verarbeitet hatte. Unvermittelt schlüpfte sie in die Rolle, die sie sonst nur in der Klinik spielte.
»Du sagst, er habe sich hinuntergestürzt. Hat er denn je über den Tod oder Suizid gesprochen?«
Michel schüttelte den Kopf. »Im Gegenteil, er war stets der Optimist unter uns. Nie im Leben wäre einer von uns auf den Gedanken gekommen, er wolle Schluss machen. Nein, das ist einfach absurd.«
Sie deutete auf die Bilder mit den grässlichen Geschwüren, die offenbar auf der Leiche Riccis fotografiert worden waren. »Der Journalist glaubt auch nicht an Selbstmord.«
»Der Journalist ist Alain Chevalier, und er ist ein Arschloch. Entschuldige«, schnauzte er wütend. »Er hat dieses Ding gesehen, das er nicht versteht, und glaubt, es habe Lorenzo in den Suizid getrieben.«
»Und du glaubst das nicht.« Es war eher eine Feststellung als eine Frage. Sie erwartete keine ernsthafte Antwort darauf und war umso überraschter von seiner Reaktion. Er schaute sie lange nachdenklich an, dann zuckte er die Achseln und murmelte fast unhörbar:
»Ich weiß es nicht mehr.«
»Nicht mehr?«
»Ja – ich bin nicht mehr sicher, ob das Ding nicht doch etwas mit seinem Tod zu tun hat. Es ist ein Lebewesen wie von einem anderen Stern.« Seine Stimme wurde noch leiser. »Und es hat sich
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