Natürliche Selektion (German Edition)
der ursprünglich gelösten Stimmung. Ihre Unterhaltung wurde einsilbiger und verstummte spätestens bei der Ortstafel von Le Noirmont. In Gedanken versunken fuhr er auf dem Sträßchen durch den Wald auf das Hochplateau. Idyllisch, wie auf einem Winterbild von Corot, tauchte Damiens Haus vor ihnen auf.
»Das ist es«, sagte Michel wie zu sich selbst. Er wunderte sich noch über die tiefen Furchen vieler Radspuren in der Wiese, neben und auf dem Feldweg, als er mit einem Schlag gar nichts mehr sah. Ein dumpfer Knall peitschte ins Wageninnere. Dreck und Schneematsch verklebten die Windschutzscheibe. Er trat automatisch auf die Bremse. Kreidebleich hingen beide in den Gurten.
»Was – war das?«, stammelte Leo heiser.
»Ein Schuss.« Michel glaubte zu wissen, wer geschossen hatte. Es hörte sich ganz nach der doppelläufigen Flinte an, die er hier schon einmal gesehen hatte. Er löste sich vom Gurt und öffnete die Tür.
Leo erschrak. »Was machst du? Bist du verrückt? Willst du dich erschießen lassen?«
Er war schon draußen. Erleichtert sah er den kleinen Mann mit der schweren Büchse. Er wedelte beruhigend mit den Armen und rief: »Napoleon! Ich bin’s, Michel Simon. Du kannst die Artillerie einpacken.« Der Alte stutzte, kam langsam näher, die Flinte immer noch im Anschlag. Nach ein paar Schritten erkannte er den Besucher wieder und ließ den Lauf der Waffe sinken. Der Hund, der ihn begleitete, bellte noch zwei, drei Mal böse, dann folgte er seinem Meister friedlich. »Was ist denn hier los, Belagerungszustand?«, lachte Michel, als sie sich begrüßten.
Napoleon zeigte auf die aufgewühlte Erde vor dem Haus. »Diese verfluchten Geier«, schimpfte er. »Ich musste sie mit Schrot vertreiben.« Während Leo die Autotür aufstieß und sich vorsichtig näherte, schilderte der Bauer die Invasion der Reporter in grellen Farben. Schließlich musterte er sie beide misstrauisch und fragte: »Was treibt euch eigentlich hierher? Glaubt ihr auch an diesen Quatsch mit den außerirdischen Viechern?«
Michel warf Leo einen verstohlenen Blick zu. »Dieser Presserummel ist widerlich«, antwortete er kopfschüttelnd. »Mich wundert, wie die auf dieses Haus gestoßen sind.« Das wusste er allerdings ganz genau. Er verstand Alain immer weniger. Früher war er der progressive Linksintellektuelle, der für den Schutz der Privatsphäre auf die Barrikaden stieg. Vielleicht begründete er seine Exzesse beim ›Parisien‹ nun mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung. Er mochte sich nicht vorstellen, welchen Zirkus die Boulevardpresse hier noch vor kurzer Zeit veranstaltet hatte und dankte Napoleon insgeheim für seinen lockeren Zeigefinger. »Ich möchte mich nur nochmals die Stelle ansehen, wo es passiert ist. In Ruhe Abschied nehmen, verstehst du?« Der Bauer nickte stumm. »Meine reizende Begleiterin hier ist übrigens Leo.«
Napoleon gab ihr die Hand und sagte völlig unerwartet: »Enchanté, Madame. Napoleon, wie der Franzose.«
Leos professionelles Urteil über die explosive Begegnung vernahm er, als sie sich außer Hörweite im Wald befanden: »Der Mensch hat sie nicht mehr alle.«
»Und er heißt wirklich Napoleon«, lachte er.
Sie näherten sich der Stelle, wo Lorenzos Korb gelegen hatte. Er nahm sie bei der Hand und trat vorsichtig an die Felskante. Sie blieb hinter ihm, hielt seinen Arm jetzt mit beiden Händen fest. Eine Weile standen sie so schweigend am Ort des unbegreiflichen Geschehens. Er sah sich wieder mit Lorenzos geschundenem Körper auf der Schulter. Doch diesmal, in ihrer Gegenwart, war nicht er es, der sich mühsam das gefährliche Felsband entlang vorwärts tastete. Er war nur noch Zuschauer. Wie erwartet, verstand er nicht besser, was Lorenzo in den Tod getrieben hatte, aber durch den gemeinsamen Besuch gewann er Abstand, ganz wie Leo angenommen hatte.
»Danke«, sagte er nur, als sie sich wieder auf den Rückweg machten. Nach wenigen Schritten sah er den Korb im Gebüsch liegen. Ein Tier hatte ihn wohl untersucht und zur Seite geschoben. Die Pilze waren verschwunden oder hatten sich aufgelöst, bis auf einen kleinen Rest, der wie ein gelber Schwamm am Geflecht klebte. Er zeigte mit dem Fuß darauf und lächelte: »Das sind wohl die bösen Außerirdischen.« Sie blickte ihn nur misstrauisch an. Ihr war nicht entgangen, wie hohl sein kleiner Scherz klang. Dieses Thema war alles andere als abgeschlossen, das wussten sie beide.
»Deine reizende Begleiterin hat Hunger«, sagte sie plötzlich,
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