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Natürliche Selektion (German Edition)

Natürliche Selektion (German Edition)

Titel: Natürliche Selektion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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ein in rosa Farben schillerndes, leuchtendes Wasserzeichen, das allmählich die anderen Gedanken aus ihrem Kopf verdrängte. Die Stunden des Nachmittags zogen sich qualvoll in die Länge. Nach der letzten Besprechung um sechs fühlte sie sich zermürbt und regelrecht entkräftet. Kein Wunder, hatte sie doch den ganzen Tag noch nichts gegessen. Sie konnte das Arbeitsessen – so nannte sie es, um das verfängliche R-Wort zu meiden – immer noch absagen, redete sie sich ein. Doch als sie Schrank und Schreibtisch abschloss, wusste sie, dass sein Wasserzeichen dies unmöglich zulassen würde.
    Noch anderthalb Stunden. Zeit genug, nach Hause zu eilen, sich zu erfrischen, etwas Anständiges anzuziehen und fünf Minuten bevor es klopfte wieder in der Praxis zu sein. Das klassische Schwarze? Oder vielleicht das freche Rote, das ihr dunkelblondes Haar so gut zur Geltung brachte? Oder doch lieber den kühlen Hosenanzug? Die Entscheidung fiel auch der erfahrenen Eleonora Bruno nicht leicht, hatte sie doch keine Ahnung, wohin er sie ausführen würde, noch was sie eigentlich wollte. Oder redete sie sich das nur ein?
Île Saint-Louis, Paris
    Das freche Rote setzte einen schönen Akzent in dieses kleine Bistro mit seinen biederen, weiß gekalkten Wänden und dunklen Balken. Eleonora sah die Sache etwas gelassener, seit sie sich dem kunstvoll arrangierten Gemüsebouquet und dem mit feiner Zitronennote marinierten Perlhuhn auf ihrem Teller widmen konnte. Es mundete vorzüglich, selbst nachdem sie den ersten Heißhunger gestillt hatte, und die Andeutung von Himbeere im Elsässer Pinot Noir fügte sich so vollendet in die Geschmackskomposition ein, dass sie beinahe vergaß, wer ihr gegenüber saß.
    »Was?«, fragte sie verwundert, als sie aufblickte und bemerkte, wie ungeniert er sie beobachtete.
    »Scheint mächtig zu schmecken«, grinste er dreist und steckte sich eine glänzende Karotte in den Mund. Sein Teller war noch halb voll.
    »Im Gegensatz zu Ihrer Kuh?«
    Er schnitt sein weiteres Stückchen seines fast noch blutigen Entrecôtes ab und kaute genussvoll, bevor er antwortete: »Ich genieße langsam.«
    Sie schaute ihn verblüfft an. Das war eigentlich ihr Text, und sie sagte es ihm.
    »Man sieht’s«, lachte er mit einem Blick auf ihren leeren Teller.
    Nun war es an ihr, ihn unverschämt zu beobachten, während er demonstrativ bedächtig weiter ass. Sie schaffte es nicht, ihn auch nur im Geringsten aus der Ruhe zu bringen. Er zelebrierte sein Mahl wie eine rituelle Handlung, genau wie sie es normalerweise tat, wenn sie nicht ausgehungert, nervös und aufgekratzt zugleich war. Kaum hatte er den letzten Bissen geschluckt, forderte sie ihn auf: »Nun, schießen Sie los Dr. Simon!« Nur ja keine peinliche Pause entstehen lassen.
    Er schaute ihr überrascht in die Augen. Das unwiderstehliche Umbra!
    »Sie wollten sich vorstellen«, fügte sie unsicher hinzu.
    Er senkte den Blick, trank einen Schluck Wein und räusperte sich, bevor er antwortete: »Ja, natürlich – ich wollte Ihnen mein Herz ausschütten.« Sein Lächeln wirkte leicht gezwungen. Er hatte offensichtlich Mühe, die richtigen Worte zu finden, um den ernsten Teil der Unterhaltung zu beginnen.
    »Das hätten Sie in meiner Praxis tun sollen«, schmunzelte sie. Seine Unsicherheit war der reine Balsam für ihre aufgewühlte Seele.
    Ein spöttisches Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Ich hab’s versucht«, antwortete er leise und widmete seine Aufmerksamkeit demonstrativ dem Weinglas.
    Die blaue Lästerzunge! Er weiß alles! , schoss ihr durch den Kopf. Darauf gab es keine intelligente Antwort mehr. Sie wollte nur noch im Boden versinken. Mit bebender Hand griff sie zur Weinflasche, doch er kam ihr zuvor, goss in aller Ruhe nach und begann zu erzählen:
    »Im Ernst jetzt. Ich finde, es ist wichtig, dass sich die Verantwortlichen aus ihrem Bereich, die Neurologen und wir Chirurgen gut kennen. Das erleichtert die Zusammenarbeit und verhindert, dass jeder nur sein eigenes Gärtchen pflegt. In der Psychiatrie kenne ich mich nicht aus, aber ...«
    »Ich weiß: Abschluss in Neurologie und Neurochirurgie. Beeindruckend.« Es war ihr einfach herausgerutscht, und sie verwünschte sich sofort dafür.
    »Oh, Sie haben sich über mich erkundigt.«
    »Die Spatzen pfeifen es von den Dächern«, wehrte sie brüsk ab und dankte Gott dafür, dass er in seiner unerfindlichen Gnade in diesem Augenblick den Kellner mit der Dessertkarte an ihren Tisch schickte.
    »Na ja, dann haben

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