Natürliche Selektion (German Edition)
die Frau zu beschwichtigen suchte: »Sachte, guter Mann, wir möchten nur mit den Bewohnern sprechen.«
»Schmieren Sie sich den guten Mann sonst wo hin und verschwinden Sie auf der Stelle! Das ist Privatbesitz, und hier will Sie niemand sprechen.« Er schäumte vor Wut über die dreisten Eindringlinge. Es kümmerte ihn nicht, dass die Kamera seine Schimpftirade aufzeichnete, im Gegenteil, es war eine gute Gelegenheit, auch den unbekannten Zuschauern die Meinung zu sagen.
Noch einmal versuchte ihn die hartnäckige Hexe zu beruhigen: »Regen Sie sich nicht auf, Monsieur. Wir möchten nur erfahren, was mit dem Mann geschehen ist, der sich angeblich hier von einer Klippe gestürzt hat. Können Sie uns etwas dazu sagen?«
Joséphine knurrte sie an und zerrte an der Leine, dass die Frau erschrocken zurückwich. Napoleon unterdrückte ein zufriedenes Grinsen und schnauzte sie an: »Das ist Blödsinn! Der arme Kerl ist abgestürzt. So hat es die Gendarmerie protokolliert und damit basta. Hier gibt es nichts zu sehen.«
Die Frau zog ein Foto aus der Jacke, wagte aber nicht, sich ihm und dem Hund zu nähern. Sie hielt es ihm mit ausgestrecktem Arm hin und entgegnete unbeirrt: »Das hier hat den Mann getötet, das wissen Sie doch. Seit wann gibt es diese Wesen hier? Sind noch mehr Menschen von ihnen befallen?«
Napoleon traute seinen Ohren nicht. Sie behauptete diesen Unsinn, als berichtete sie über das gestrige Wetter. Wieder kochte die Wut in ihm hoch. Diese Spinner mussten hier verschwinden, je eher desto besser. Er richtete den Lauf der Flinte direkt in die Kamera und drohte: »Ich sag’s nur noch einmal: hauen Sie ab mit all ihren Kumpanen, sonst kann ich für nichts mehr garantieren!«
Die beiden zögerten nur kurz, dann gaben sie auf. Das Fernsehteam packte hastig zusammen. Die anderen Gaffer begriffen nicht gleich, weshalb der Übertragungswagen das Gelände so schnell wieder verließ. Ein besonders waghalsiger Fotograf trat auf den mit Hund und Flinte bewaffneten Bauern zu, schoss schnell ein paar Bilder und wollte ein Interview.
»Haut ab!«, schrie Napoleon ihn an. »Habt ihr nicht verstanden?« Offenbar nicht, denn keiner bewegte sich. Das war zuviel für ihn. Er riss die Flinte hoch und feuerte einen Warnschuss in die Luft. »Versteht ihr das, ihr Idioten?«, brüllte er aufgebracht. Joséphine kläffte jetzt ununterbrochen. Der Schuss musste sie noch mehr erschreckt haben als die Reporter, die wie der Blitz in ihren Autos verschwanden und alle gleichzeitig auf dem schmalen Feldweg zu entkommen suchten. »Wer sagt’s denn«, brummte der alte Bauer zufrieden. Er strich seiner Joséphine beruhigend über den Kopf, dann lud er nach. Man konnte nie wissen.
Das Haus mit der kleinen Pâtisserie bei der Abzweigung nach La Chaux-de-Fonds kam in Sicht. Beim Anblick beschlich Michel ein beklemmendes Gefühl. Er war sich plötzlich nicht mehr so sicher, ob die Reise zurück an den Ort der traurigen Erinnerungen eine gute Idee war. Er folgte der Strasse, die nach Le Noirmont führte. Nach einer Weile schaute er unruhig in den Rückspiegel.
»Was hast du?«, fragte Leo neben ihm. »Du kontrollierst andauernd den Rückspiegel. Man könnte meinen, wir werden verfolgt.«
»Ich weiß nicht. Eine Zeitlang hatte ich das Gefühl, dass uns ein Wagen folgt, aber ich sehe ihn nicht mehr. War wohl nur Einbildung.«
»Entspann dich. Betrachte die Fahrt einfach als unseren ersten gemeinsamen Ausflug.«
Seine Hand rutschte vom Schalthebel auf ihr Knie. »Ja, hätte ich beinahe vergessen«, grinste er.
Sie ließ ihn gewähren, mahnte aber: »Immer schön nach vorn schauen.«
Lange hatte er mit sich gerungen, bis er endlich bereit war, ihrem Rat zu folgen. Ihm war klar geworden, dass er keine Ruhe finden würde, solange er im Dunkeln tappte. Auch wenn er nicht glaubte, hier viel Neues zu erfahren, was Licht in Lorenzos mysteriöses Ableben bringen könnte, versuchen musste er es trotzdem noch einmal. Jedenfalls hatte sich die romantische Fahrt durchs winterliche Burgund und die verschneiten Schluchten des Jura mit der atemberaubenden Frau an seiner Seite bereits mehr als gelohnt. Schneller als sonst hatte er die Hektik des Alltags hinter sich gelassen. Eine Leichtigkeit und ein befreiendes Hochgefühl hatten sich eingestellt, wie seinerzeit bei der Reise mit seinen Freunden. Und doch war jetzt alles ganz anders, ernsthafter irgendwie. Je näher aber das Dorf und das alte Bauernhaus rückten, desto weniger spürte er von
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