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Natürliche Selektion (German Edition)

Natürliche Selektion (German Edition)

Titel: Natürliche Selektion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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einfache Leben macht sie glücklich.«
    Die Art, wie er das erzählte, traf sie mitten ins Herz. Nicht der schwärmerische, intellektuelle Romantiker saß vor ihr, sondern der bodenständige, kraftstrotzende Bursche mit empfindsamer Seele, der den einfachen Bauern ehrlichen Respekt zollte. »Meine Freunde nennen mich Leo«, flüsterte sie mit belegter Stimme. Ihre Augen hingen noch immer an seinen Lippen.
    »Michel«, sagte er nur und griff, ohne hinzusehen, zum Glas, um anzustoßen. Er stellte es gleich wieder beiseite. »Leer, das geht nicht. Wir müssen das Du anders besiegeln.« Er erhob sich, beugte sich über den Tisch und machte Anstalten, sie zu küssen.
    Sie erschrak so heftig, dass sie den Kopf drehte. Statt auf ihre Wange legten sich seine Lippen auf ihren halb geöffneten Mund. Alle Dämme brachen. Sie schloss die Augen, erwiderte den sanften Druck. Ihre Lippen pressten sich fester aufeinander. Das Geschwätz, die Gerüche, die Menschen der Umgebung lösten sich in nichts auf. Ihre Zungen fanden sich, und sie begannen sich gegenseitig zu verzehren. Die Zeit stand still. Das erste Geräusch, das sie wieder wahrnahm, war der Applaus der Gäste nach ihrer schamlosen Darbietung. Sie sprachen kein Wort, brauchten sich nur anzusehen, wussten beide, was nun folgen würde.
    Wenig später setzte sie das Taxi auf dem Kopfsteinpflaster vor ihrem Haus ab. Sie schleifte Michel regelrecht die Treppe hoch. Die Wohnungstür war kaum ins Schloss gefallen, flogen die ersten Kleidungsstücke zu Boden. Sie wusste später nicht mehr, wie sie es ins Wohnzimmer aufs Sofa geschafft hatten, erinnerte sich nur, wie erleichtert sie war, auch darunter das kurze Rote zu tragen. Und an seinen überraschten Ausruf: »Du bist ja wirklich blond!«
Butte Aux Cailles, Paris
    Der unverkennbar herbe Geruch frisch gemahlener Arabica-Bohnen stieg ihr in die Nase und weckte ihre Lebensgeister. Verwundert schlug Leo die Augen auf. Die ungewohnten Geräusche aus der Küche erinnerten sie daran, dass sie nicht mehr allein war, seit gestern Abend, Freitagabend. Wie lange war es her, dass sich zum letzten Mal ein Mann in ihrer Wohnung befand, wenn sie erwachte? Fünf Jahre? Zehn Jahre? Es spielte keine Rolle. Jetzt galt eine neue Zeitrechnung. Ein warmer Schauer rieselte durch ihren Körper beim Gedanken an das, was vor ein paar Stunden in ihren sonst so ruhigen Zimmern geschehen war. Sie lag im Bett, allein, ein Bein auf der zerwühlten Decke. Sie wälzte sich auf den Bauch und vergrub ihr Gesicht in seinem Kissen. Am Gewebe haftete noch ein Hauch seines Aftershave. Sie tat einen tiefen Atemzug, ehe sie sich auf die andere Seite rollte und vorsichtig erst einen Fuß, dann den zweiten aufs Parkett setzte, als fürchtete sie, ihn zu wecken. Halb nackt, nur mit ihrem roten Seidenhemdchen bekleidet, stahl sie sich aus dem Schlafzimmer und folgte dem Kaffeeduft auf Zehenspitzen. Michel stand angezogen mit dem Rücken zur Tür vor der Anrichte in der Küche. Sorgfältig füllte er den Kolben mit dem duftenden Pulver und begann zu stopfen. Leo schaute ihm eine Weile gedankenverloren zu, dann erschreckte sie ihn plötzlich mit der Frage:
    »Du glaubst also nicht an blonde Italienerinnen?«
    Der Espressokolben fiel ihm aus der Hand, doch er fasste sich schnell wieder. »Ich sehe leider nur die obere Partie meiner Patientinnen«, gab er spitz zurück.
    »Du würdest staunen. In Mailand und im Veneto gibt es Blondinen wie Sand am Meer, echte und gebleichte.«
    »Muss ich mir unbedingt ansehen.« Er wandte sich grinsend wieder seiner Arbeit zu.
    Sie trat hinter ihn, schlang die Arme um seine Brust, küsste seinen Hals und murmelte mit gespielter Entrüstung: »Untersteh dich!« Ihre Hände sanken tiefer, ruhten eine Spur zu lange auf seinen Pobacken. Er hielt inne, die Hand über der Start-Taste. Zeig mir noch einmal, was deine spitze Zunge gestern Abend südlich meines Nabels gemacht hat , schoss ihr durch den Kopf, doch dann sah sie die Tüte mit den frischen Croissants und die Zeitung, die er geholt hatte, während sie noch träumte. Schnell zog sie ihre Hände zurück und eilte ins Schlafzimmer zurück. »Bin gleich wieder da, ich zieh mir nur etwas an«, sagte sie zu seinem Rücken. In aller Eile warf sie sich den Morgenrock über, erfrischte sich im Badezimmer und kehrte in die Küche zurück, bevor der zweite Kaffee gebraut war. Zeitung und Tüte mit dem Gebäck in der einen Hand, die volle Tasse in der anderen, verschwand sie wortlos im

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