Natürliche Selektion (German Edition)
die Vögel wohl auch Ihre Schwestern informiert«, scherzte er.
»Charlotte? Stellt sie Ihnen nach?«
»Charlotte«, wiederholte er genüsslich. »Charlotte heißt es also, das schöne Kind.«
Ihre Antwort kam blitzschnell und auch für sie überraschend wie eine kalte Dusche: »Die Freundin meines Assistenten.« Sie wagte nicht, ihn anzusehen, beschäftigte sich stattdessen intensiv mit der Auswahl an Süßigkeiten. »Die Tarte au chocolat hört sich lecker an.«
»Das beruhigt mich. Ich fürchtete schon, Charlotte habe ein Auge auf mich geworfen.«
Sie bestellte den süßen Traum und wechselte das Thema. »Wo sehen Sie denn Überschneidungen Ihrer Arbeit mit der Psychiatrie?«
»Bei meiner Arbeit mit Professor Fabre habe ich gelernt, dass die Grenzen zwischen psychischen und physischen Störungen verschwimmen, je mehr wir über Aufbau und Funktion unseres Gehirns wissen. Eine ganz neue und spektakuläre Erkenntnis ist zum Beispiel, dass sich gewisse Formen schizophrenen Verhaltens als krankhafte Veränderungen der Seitenventrikel beobachten lassen, bevor sie sich manifestieren. Zumindest in Ratten haben wir nachgewiesen, dass sich der Ausbruch der psychischen Störung in hundert Prozent der Fälle verhindern lässt, wenn man die Missbildung frühzeitig durch Medikamente behandelt. Schizophrenie stoppen bevor sie beginnt. Das ist doch schon ein guter Anfang.«
»Schizophrene Ratten?«, spottete sie zwischen zwei Bissen der göttlichen Torte.
Er zuckte die Achseln. »Ich weiß, es ist noch ein langer Weg, aber vergessen Sie nicht, wie ähnlich die Tierchen uns sind.«
Sie hörte ihm gerne zu. Und sie wusste genau, dass sie nicht weniger fasziniert an seinen Lippen hinge, würde er über Fußball sprechen, der sie im Übrigen keinen Deut interessierte. Er verstand es, in kurzer Zeit ein durchaus plausibles Bild von sich zu zeichnen, das ihr von Minute zu Minute besser gefiel. Geschickt flocht er hin und wieder Bemerkungen ein, die ihr einen Blick unter die glatte Oberfläche des brillanten Mediziners gestattete, einen Blick hinter die Kulissen, sozusagen. Eine Geschichte wie eingeübt, sie um seinen schönen Finger zu wickeln. Etwas Wichtiges allerdings hatte er bisher verschwiegen, und sie wagte nicht, ihn direkt danach zu fragen, bis er die Expedition in den Jura erwähnte. Sie gab sich überrascht. »Ihre Frau lässt Sie unbeaufsichtigt nächtelang mit anderen Kerlen umherziehen?«, fragte sie dazwischen.
»Na ja, um ehrlich zu sein: ich habe sie nicht gefragt.« Die Fältchen um seine Augen verrieten, dass er sie sofort durchschaut hatte. »Ich konnte sie nicht fragen, da es sie nicht gibt. Die Freundin übrigens auch nicht, um Ihre nächste Frage gleich zu beantworten«, fügte er spöttisch hinzu.
Ihre Kaffeetasse war leer. Das hinderte sie nicht, sie nochmals umständlich zum Mund zu führen und hineinzumurmeln: »Dann ist ja alles klar.«
»Eben nicht«, lachte er blickte ihr direkt ins Herz. »Ich bin nämlich ebenso neugierig.«
Die unausgesprochene Frage hing über ihr wie ein Damoklesschwert. Sie musste unbedingt vermeiden, ihn gleich am ersten Abend mit der alten Geschichte ihrer Scheidung und ihrer erwachsenen Tochter in die Flucht zu schlagen. Oh Gott, sie war bestimmt eine Generation älter als er. Nicht genug, dass sie den ganzen Abend Schmetterlinge im Bauch hatte, er machte ihr auch noch schöne Augen. »Warum denn ausgerechnet dieses primitive Bauernhaus?«, hakte sie nach, um die Schicksalsfrage zu verscheuchen.
»Das einfache Leben. Das glückliche, einfache Leben rührt mich, wohl weil ich mich selber manchmal danach sehne. Vor ein paar Jahren verbrachte ich einmal eine Woche in der Schweiz, in den Tessiner Bergen. Es war ein winziges Dorf, wo die Bauern im Herbst ihre Kastanien ernten, um sie dann mit größter Sorgfalt über einem Holzfeuer zu räuchern. Alle paar Stunden, Tag und Nacht, sorgt der Räuchermeister dafür, dass das Holz nur glimmt und die kostbaren Früchte gleichmäßig trocknen. Es darf keine Flamme aus den Scheiten schlagen, denn sie würde die Ernte verbrennen. Dann, nach vier langen Wochen, öffnet der Räuchermeister den Ofen. Die Ältesten prüfen das Ergebnis der Zeremonie, und wenn sie zufrieden sind, veranstalten die Leute im Dorf ein großes Fest, um die gute Ernte zu feiern. Es ist bestimmt ein hartes Leben dort in den Bergen, aber die Bewohner, die geblieben sind, wollen nichts anderes, und als ich gegangen bin, habe ich besser verstanden, warum. Das
Weitere Kostenlose Bücher