Natürliche Selektion (German Edition)
in sein Hirn eingenistet.«
Sie schauderte, als er ihr seinen Besuch in der Pathologie schilderte. Schließlich fragte sie: »Dann könnte dieser Chevalier doch recht haben, meinst du?«
»Nein – ja – ach, ich weiß es wirklich nicht. Bisher versteht niemand, warum geschehen ist, was geschehen ist. Dieser Artikel ist reine Sensationshascherei. Die Bilder hätten niemals veröffentlicht werden dürfen. Warum kann man den Toten nicht einfach ruhen lassen?«
Sie sagte nichts. Seine Mimik verriet ihr allzu deutlich, dass er keineswegs dachte, was er sagte. Sie stand auf, nahm die leeren Tassen und warf ihm einen fragenden Blick zu. Er nickte, faltete die Zeitung zusammen, schien sich ein wenig zu entspannen. Während sie frischen Kaffee zubereitete, überlegte sie ihre Strategie. Michel hatte den Tod des Freundes offensichtlich noch nicht verarbeitet, fühlte sich womöglich mitschuldig. Sie konnte nichts zur Aufklärung der mysteriösen Umstände beitragen, aber vielleicht half eine andere Therapie. »Deine Gedanken kehren immer wieder an jenen Ort zurück«, bemerkte sie beiläufig, als sie die vollen Tassen auf den Tisch stellte.
Er verzog den Mund zu einem gequälten Lächeln. »Ziemlich offensichtlich für die Psychiaterin, nicht wahr?«
»Ziemlich offenkundig für jeden, der dir zuhört. Aber was ich sagen wollte: manchmal tut es gut, einen solchen Ort unter anderen Umständen nochmals aufzusuchen.« Er ließ keine Überraschung erkennen, aber der starre Blick, mit dem er durch sie hindurchschaute, zeigte, dass sie eine empfindliche Stelle getroffen hatte. »Wenn du willst, begleite ich dich.« Es klang wie ein Satz aus einer Therapiesitzung. »Als Freundin natürlich«, ergänzte sie deshalb schnell.
Die Anspannung in seinem Gesicht löste sich allmählich. Der warme Glanz kehrte in seine Augen zurück. »Unglaublich, ich habe eine Freundin«, lachte er.
Damit war das Thema vorerst erledigt. Sie durfte ihn nicht drängen. Ihre Erfahrung sagte ihr, dass er auf ihr Angebot zurückkommen würde. Die Unterhaltung über den pietätlosen Zeitungsartikel fegte das erotische Knistern zwischen ihnen gründlich hinweg. Die animalischen Schwingungen klangen ab. An ihrer Stelle entwickelte sich eine Art geistige Resonanz, ein seelischer Gleichklang, der eine behagliche Wärme in ihrer Wohnung verbreitete. Erste Anzeichen einer echten Beziehung zwischen ihr und Michel.
Le Noirmont, Schweizer Jura
Der alte Bauer runzelte die Stirn, als er die frischen Reifenspuren auf dem nassen Feldweg sah. Es war vorbei mit der Ruhe ums alte Bauernhaus des Professors. Zu jeder Tages- und Nachtzeit fuhren nun schon Autos vor. Ganze Teams rasender Reporter zertrampelten die Wiese rund ums Haus, verdreckten den Wald mit Zigarettenpackungen und Plastiktüten und knipsten alles, was ihnen vor die Linse kam, als wären hier die kleinen grünen Männchen in ihrer Suppenschüssel gelandet. Niemand im Dorf wusste, was die überhaupt hier wollten, aber es musste etwas mit dem spektakulären Todesfall zu tun haben, dem einzigen nennenswerten Ereignis der letzten Jahre in dieser verschlafenen Gegend. Sie redeten mit keinem und keiner redete mit ihnen.
Diese neue Spur war breiter als die andern, wie von einem Lastwagen. »Joséphine, jetzt reicht’s!«, knurrte er seine Schäferhündin an, die ihn verwirrt anguckte und dazu aufgeregt schwänzelte. Lastwagen! Das ließ sich der alte Napoleon nicht länger bieten. Wenn schon Matthis, die faule Sau auf dem Posten, nichts gegen das Pack unternahm, musste er selbst für Ordnung sorgen, wozu hatte er seine Schrotflinte? Das war er dem Professor schuldig. Joséphine zog hechelnd an der Leine. Er beschleunigte seine Schritte. Bald standen sie auf der Kuppe, von der man das Haus und die Umgebung überblickte. Tatsächlich, neben den kreuz und quer in der Wiese geparkten Kleinwagen stand ein weißer Kastenwagen. Der Übertragungswagen eines Fernsehsenders. Selbst wenn er die dicke Aufschrift ›Metro7 TV‹ nicht hätte lesen können, die Parabolantenne auf dem Dach sagte alles. Sie eilten den Weg hinunter. Mit rotem Kopf stoppte Napoleon den Kameramann und seine Begleiterin, als sie sich am Tor zu schaffen machten. »Halt, sofort weg da! «, rief er außer sich. »Was zum Teufel fällt euch ein? Was wollt ihr hier?« Joséphine unterstützte ihren Meister mit bösem Knurren und Gebell.
Die beiden drehten sich um, mehr verwundert als verängstigt. Sofort nahm ihn der Kameramann ins Visier, während
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