Natürliche Selektion (German Edition)
kurierten ihren Kater so gut es ging mit kaltem Wasser und starkem Kaffee, während sie auf den Koch warteten. Es blieb ihnen nicht viel anderes übrig, denn dies war Lorenzos Tag. Er führte das Szepter, er würde heute die Arbeiten zuteilen. Eine Stunde verging, zwei Stunden. Noch immer kein Lebenszeichen von ihrem Freund. Beunruhigt rief ihn Michel auf dem Handy an, und es klingelte prompt neben den Pfannen.
Nach einer weiteren halben Stunde stand er abrupt auf, zog die Jacke an und verließ das Haus mit den Worten: »Da stimmt was nicht, ich gehe ihn suchen.« Er wusste nicht mehr, wie lange er im Wald umhergeirrt war, bis er den Korb entdeckte. Er beschleunigte seine Schritte, rief Lorenzos Namen, sah die prächtigen Pilze, die aus dem Korb gepurzelt waren, und trat mit einem Fuß ins Leere. Im letzten Augenblick erwischte er einen starken Ast, an dem er sich festkrallte, sonst wäre er abgestürzt. Vorsichtig zog er sich zurück und sah die andere, frische Schleifspur. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, als er sich nochmals vorwagte, um die fast senkrechte Wand hinunterzublicken. »Lorenzo«, murmelte er tonlos, als er den verkrümmten Körper auf dem Felsvorsprung entdeckte. Ihm war sofort klar, dass er zu spät kam. Starr vor Entsetzen versuchte er, die Freunde zu alarmieren, aber in dieser gottverlassenen Gegend herrschte absolute Funkstille. Was sollte er tun? Zurück rennen, Hilfe holen? Vielleicht war es doch noch nicht zu spät. Wenn Lorenzo den Sturz überlebt hatte, zählte jede Sekunde, also suchte er verzweifelt einen Weg, um an die Absturzstelle zu kommen. Er bemerkte das schmale Felsband, das der Wand entlang schräg zum Wald hinauf führte. Das war seine Chance. Er überwand seine notorische Höhenangst, denn seine Sinne und Muskeln dienten nur noch einem Zweck: der Rettung Lorenzos.
Wenige Minuten, nachdem er den Korb mit den Pilzen entdeckt hatte, kniete er auf dem Moos neben seinem Freund, mit der traurigen Gewissheit, dass ihm niemand mehr helfen konnte. Die Tropfen fielen zahlreicher, bald würde heftiger Regen einsetzen. Nebelschwaden krochen vom Fluss herauf, von Minute zu Minute dichter und höher, drohten ihm den Rückweg abzuschneiden. Behutsam hob er den toten Freund auf, blieb unschlüssig stehen, versuchte, den schmalen Pfad an der glitschigen Felswand zu betreten und zuckte sofort zurück, als sein Fuß auf dem abschüssigen Moosteppich ausrutschte. Mit dem Leichnam auf den Armen gab es kein Zurück. Er musste den schlaffen Körper schultern. So konnte er ihn mit der Rechten festhalten, hatte die Linke frei, um sich an den spärlichen Wurzeln und Ästen festzuhalten. Zaghaft betrat er das Felsband, jeden Tritt sorgfältig prüfend, bevor er das Gewicht verlagerte. Nacken und Schulter begannen zu schmerzen und mehr als einmal musste er stöhnend innehalten, bis das gefährliche Zittern in den Beinen wieder abklang. Unendlich langsam schob und zerrte er sich der nassen Felswand entlang. Zu seinem Glück verhüllte der Nebel unter seinen Füssen den fürchterlichen Abgrund, über dem er mit seiner traurigen Last schwebte. Immerhin näherte er sich zusehends dem Ende der Wand. Mit letzter Anstrengung zog er sich an einer dicken Wurzel aus dem Fels ins sichere Gestrüpp des Waldes. Er hatte Tränen der Anstrengung und Trauer in den Augen, als er Lorenzos Leichnam aufs feuchte Laub legte. Schwer atmend setzte er sich neben ihn und wartete, bis sein Puls sich wieder beruhigte.
Noch einmal hievte er den toten Freund auf die Schulter und eilte durch den Wald zurück zur Ferme. Alain rannte als Erster aus dem Haus auf ihn zu, den unvermeidlichen Fotoapparat in der Hand, das Gesicht zu einem albernen Grinsen verzogen. Doch den abfälligen Spruch, den er zweifellos auf der Zunge hatte, verschluckte er wieder, als er Michels traurige Augen sah und erkannte, warum er Lorenzo mit sich schleppte. Kreidebleich zuckte er zurück, rannte zum Haus und alarmierte die andern. Michel legte den toten Körper im Vorraum auf eine Plane und bedeckte das Gesicht mit dem zerrissenen Leintuch, das als Staubschutz über dem Geräteschrank diente. Einer nach dem andern traten die Freunde näher, stumm, fassungslos. Beinahe ängstlich hielten sie Abstand von der reglosen Gestalt. Keiner wagte, das Tuch zurückzuschlagen, um dem toten Lorenzo ins Gesicht zu sehen.
»Was – was – ist passiert?«, stammelte Patrick schließlich mit belegter Stimme.
Michel schüttelte betrübt den Kopf und antwortete
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