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Natürliche Selektion (German Edition)

Natürliche Selektion (German Edition)

Titel: Natürliche Selektion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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er nie etwas anderes gesagt, wandte er sich an den Notarzt und verkündete im Brustton der Überzeugung:
    »Es war ein Unfall. Die Herren werden den Transport ihres toten Freundes nach Paris selbst organisieren. Wir sind hier fertig.«
Place Jussieu, Paris
    Der kleine Hörsaal des Instituts für Hirn- und Rückenmarkforschung an der Place Jussieu war nicht einmal halb besetzt, und das war gut so. Professor Dr. Damien Fabre stand hier nicht vor einer Klasse von Frischlingen. Mit seinen dreißig Jahren Berufserfahrung als Forscher und Dozent brauchte er keine Anfänger-Vorlesungen mehr zu halten. Die zwei Dutzend Leute im Saal, dreiundzwanzig junge Männer und eine blaublütige Dame, waren Mediziner und Biologen aller Fachrichtungen, die sich an seinem Institut zu Neurologen weiterbildeten. Das war jedenfalls ihr erklärtes Ziel, obwohl der Professor nicht zum ersten Mal erhebliche Zweifel an der Ernsthaftigkeit seiner Zöglinge hegte. Nicht nur ließ die Aufmerksamkeit oft zu wünschen übrig, auch ihre Vorbereitung auf die Vorlesung hielt sich in engen Grenzen, und das ärgerte ihn mehr als alles andere. Nicht umsonst galt er als einer der erfolgreichsten Dozenten auf seinem Gebiet, hatte seine strenge Schule mehr Spitzenforscher hervorgebracht als viele andere Institute zusammen. Wer zu seinen Vorlesungen und Seminarien zugelassen wurde, musste wissen, dass er genauso zu liefern hatte wie der alte Professor. Er kündigte das Thema jeder Stunde jeweils ausführlich an, inklusive aller relevanten Literaturangaben. Es ging einfach nicht an, dies zu ignorieren. Dafür gab es in seiner Welt keine Entschuldigung. Im Grunde war er der Meinung, die Studenten jeden Alters sollten sich in den Vorlesungen nur bestätigen lassen, was sie ohnehin schon wussten. Anscheinend hatten das die noblen Herrschaften vergessen.
    Dagegen gab es nur ein probates Mittel. Er schaltete den Projektor aus, holte hörbar tief Luft, fixierte die Zuhörer eine Weile stumm mit seinem stechenden Blick, während sein Daumen leise aufs Pult trommelte. Sein kurzer Hals, das Gesicht und die glänzende Halbglatze röteten sich dabei zusehends, offenbarten ehrliche Entrüstung. Lauter als üblich schleuderte er dann angewidert die Worte in den Saal, die alle schon oft gehört und wohl auch, trotz all ihrer Diplome und Titel, fürchten gelernt hatten:
    »Madame de Sévigné, Messieurs, so geht es nicht!«
    Er holte nochmals tief Luft, bevor er konkreter wurde: »Wenn Sie sich einen Dreck um die neusten Forschungsergebnisse scheren, weshalb verschwenden Sie dann ihre und meine Zeit? Ich hätte nicht übel Lust, Sie nach Hause zu schicken und auf Morgen früh um sechs wieder hierher zu bestellen, nachdem sie den Bericht gelesen haben, in dem dieses Bild zu finden ist.« Ärgerlich hieb er auf die Taste, um das Licht des Projektors wieder einzuschalten. »Es dürfte auch Ihnen nicht entgangen sein, dass wir hier drei Schnitte eines Kleintierhirns sehen, eines Rattenhirns, um genau zu sein. Also, versuchen wir es nochmals: was sehen Sie?«
    »Ventriculi laterali?«, antwortete Madame de Sévigné nach kurzem Zögern kaum hörbar, als erwarte sie eine Ohrfeige.
    »Wunderbar«, kommentierte er trocken. »Wenigstens ein Hirn, das noch nicht ganz abgestorben ist. Und nun, meine Herren, fällt Ihnen etwas auf?«
    Plötzlich schien sich doch noch einer seiner Zuhörer an das Thema der Vorlesung zu erinnern. Wie ein Schuljunge, der eben das Licht gesehen hat, rief er aufgeregt: »Die krankhaft erweiterten Ventriculi im mittleren Bild deuten auf die Entwicklung schizophrener Störungen hin!«
    Der Professor wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Der junge Mann hatte den Kern der Sache erkannt, aber auch er schien nicht zu verstehen, was die beiden anderen Bilder mit den normalen Seitenventrikeln zu bedeuten hatten. »Lesen Sie den Bericht«, seufzte er erschöpft und packte seine Sachen zusammen. »Mir reicht’s für heute.«
    Mürrisch, ohne sein Publikum eines weiteren Blickes zu würdigen, verschwand er durch die Seitentür ins Vorbereitungszimmer. Er brauchte jetzt Ruhe, Zeit mit sich allein, um den Ärger verrauchen zu lassen. Warum tat er sich diese Qual an? Er könnte sich längst auf die reine Forschung beschränken, die Lehre den Jüngeren überlassen, die erst noch ihre Hörner abstoßen mussten. Sollten die sich mit dem störrischen akademischen Nachwuchs herumschlagen. Er warf seine Unterlagen auf den Schreibtisch und schaute zum Fenster hinaus ins

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