Natürliche Selektion (German Edition)
leise: »Ich weiß es nicht. Ich habe ihn auf einem Felsvorsprung gefunden. Keine Ahnung, warum er abgestürzt ist.«
»War er ...?«
»Ja, er war schon tot, als ich ihn gefunden habe.« Er betrachtete den Körper am Boden und fügte nüchtern hinzu: »Die Totenstarre dürfte bald einsetzen«, als wäre er ein unbeteiligter Pathologe. Stockend erzählte er, wie er Lorenzo gefunden und geborgen hatte. Keiner der Freunde unterbrach ihn. Wie er selbst, kämpfte wohl ein jeder auf seine Weise mit sich, versuchte zu akzeptieren, dass einer von ihnen, ein guter Freund, der sie gestern noch mit spitzer Zunge unterhalten hatte, nun nie mehr sprechen und lachen würde. Lorenzo gab es nicht mehr, nur noch seine tote Hülle lag vor ihnen, ein Körper, der im Grunde nichts mehr mit ihrem Freund gemein hatte, ein unheimlicher Fremdkörper. Einzig Michel kannte als Mediziner keine Berührungsängste mit dem Toten. Ohne Vorwarnung schlug er das Leintuch zurück und entblößte das weiße Gesicht. René und Patrick wichen entsetzt zurück.
Alain, dessen Neugier die Angst und Abscheu besiegte, trat näher, betrachtete das Gesicht eingehend und murmelte schließlich erregt: »Was ist das?«
Auch Michel hatte sofort bemerkt, dass sich das unerklärliche Schauspiel in Lorenzos Gesicht zu wiederholen begann, das ihn auf dem Felsvorsprung so sehr erschreckt und gefesselt hatte. Das seltsame Gallertwesen hatte sich während des Transports der Leiche in die Nase zurückgezogen, doch jetzt, vielleicht ausgelöst durch die Wärme, kroch es wieder wie eine schleimige Schnecke hervor, breitete sich aus und erstarrte vor ihren Augen zu einer Art Flechte auf Lorenzos Wange.
»Was zum Teufel ist das?«, rief Alain außer sich, und bevor Michel oder die andern ihn daran hindern konnten, schoss er eine Serie von Bildern, Grossaufnahmen des toten Gesichts mit dem unheimlichen Bewohner.
Michel stieß ihn unwirsch weg. »Was fällt dir ein?«, schimpfte er ungehalten und deckte den Leichnam schnell wieder zu. »Wir haben jetzt Wichtigeres zu tun.« Auch wenn er äußerlich ruhig blieb, war er doch genauso verblüfft, ratlos und verunsichert über die Entdeckung wie seine Freunde.
Patrick hatte sich wieder gefangen und sagte sachlich: »Wir müssen die Polizei und den Notarzt alarmieren.«
»Notarzt - ich bin ein verdammter Arzt!«, ereiferte sich Michel, der seinen Ausbruch sogleich bereute. »Pardon, ich wollte nicht – du hast ja recht.« Patrick klappte sein Telefon auf und wählte die Notrufnummer.
Sie brauchten nicht lange zu warten. Mit Blaulicht und heulendem Martinshorn fuhr die Kolonne aus Gendarmerie, Notarztwagen und, wie sich sogleich herausstellte, ihrem wachsamen Nachbarn Napoleon, auf dem Hof vor. Matthis, der Gendarme, stellte sich als Polizeikommandant vor und begann sofort mit strenger Miene mit der Befragung.
»Was fällt Ihnen ein, den Tatort zu betreten und die Leiche zu entfernen?«, schnauzte er Michel an, nachdem er die traurige Geschichte zum zweiten Mal erzählt hatte.
»Tatort? Es war ein Unfall«, stammelte Michel betroffen. Der Gedanke an ein Verbrechen war ihm noch nicht gekommen. Ihm und seinen drei Freunden gelang es nicht, den strengen Monsieur Matthis zu beruhigen, obwohl der Notarzt Michels Einschätzung bestätigte. Der Sturz war die Todesursache. Es gab keinerlei Anzeichen von Gewalteinwirkung. Erst als sich Napoleon zu ihren Gunsten einschaltete, konnte man wieder normal reden mit dem eifrigen Beamten.
»Was geschieht jetzt mit dem Leichnam?«, fragte Michel vorsichtig.
Der Polizist antwortete kurz angebunden: »Der Notarzt wird ihn in nach Saignelégier in die Pathologie bringen.«
Die Freunde schauten sich konsterniert an. Michel gefiel die Vorstellung ganz und gar nicht, seinen toten Freund fern seiner Heimat von Unbekannten aufschneiden zu lassen. Er wollte sich allerdings nicht mehr auf eine fruchtlose Diskussion mit dem Hüter des Gesetzes einlassen. Einer Eingebung folgend, wandte er sich unauffällig an Napoleon und reichte ihm sein Telefon. Der Alte nickte nur und wählte die Nummer des Besitzers der Ferme. Kurz und präzise schilderte er Damien mit seiner Fistelstimme, was geschehen war, hörte eine Weile nickend zu und hielt dann den Apparat dem Gendarmen ans Ohr. Matthis nahm Haltung an, als er hörte, wen er am Draht hatte. Immer wieder murmelte er: »Qui – bien sûr – oui«, während er aufmerksam zuhörte, bis er endlich mit einem erleichterten »Très bien« auflegte. Als hätte
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