Natürliche Selektion (German Edition)
und duzte sie sogleich. »Der Professor hat mich selbstverständlich informiert über euren Besuch. Mein Hof liegt zehn Minuten weiter südlich, und ich bin so etwas wie der Verwalter hier, wenn die Ferme leer steht.« Mit einem Blick auf seine Flinte fügte er hinzu: »Sorge dafür, dass kein Gesindel reinkommt.«
»Dann sind das Ihre, pardon, deine Kühe da draußen?«, fragte Patrick, der Physiker, albern. Er hatte sich vom ersten Augenblick an große Sorgen um seinen liebevoll gepflegten Ferrari auf der Wiese vor dem Haus gemacht.
Napoleons Antwort kam prompt und spitz wie seine Mütze: »Klar, oder glaubst du, es sind wilde Kühe?« Er wartete, bis das Gelächter verstummte, dann wollte er wissen: »Braucht ihr Milch? Wisst ihr überhaupt, was das ist? Ihr könnt die Rose und die Marie melken. Könnt ihr melken?« Betretenes Schweigen beantwortete die letzte Frage. Der Bauer schüttelte zufrieden schmunzelnd den Kopf und sagte in einem Tonfall, der keine Widerrede zuließ: »Dann wird es Zeit, dass ihr es lernt.« Damit drehte er ihnen den Rücken zu und stapfte aus dem Haus.
»Das ist vielleicht ein Giftzwerg«, empörte sich Lorenzo, der feinsinnige Koch. »Worauf haben wir uns da nur eingelassen. Michel, ich mache dich für alle bleibenden seelischen Schäden verantwortlich, die ich hier erleide. Melken! Ich werde doch keine Kuhtitten begrapschen! Ich muss gleich kotzen.«
»Andere Brüste wären mir auch entschieden lieber«, pflichtete ihm der Reporter bei.
»War ja klar, dass die Konversation früher oder später unter die Gürtellinie rutschen musste«, grinste Michel. Auch das gehörte zum großen Atemholen. Schließlich war man unter sich, und jeder genoss es auf seine Weise. Er erlebte die folgenden Tage auf dem einsamen Bauernhof, fernab jeder Verpflichtung und Routine, losgelöst von gesellschaftlichen und beruflichen Zwängen, als eine Art Jungbrunnen. Das mochte sich lächerlich anhören, denn er hatte seinen dreißigsten Geburtstag noch vor sich, und doch war es genau dieses Gefühl, das ihn jeden Morgen beim Waschen mit dem eisigen Quellwasser am Brunnen beglückte. Ein Gefühl, als fielen die ganze Mühsal und Anspannung der atemlosen Jahre an der Uni von ihm ab. Die endlosen Tage und Nächte als Unterhund, wie sich die ausgebeuteten Assistenzärzte in der Klinik nannten, rückten mit jedem Tag weiter in die Ferne, verblichen allmählich zur amüsanten Episode. Die wohlige Wärme nach dem Kälteschock, die ihn beim Trockenreiben unter den neugierigen Blicken der gefleckten Kuhdamen durchrieselte, empfand er als Vorbote eines glücklichen, neuen Lebensabschnitts. Dr. Dr. Michel Simon, anerkannter Hirnchirurg an der renommierten Pariser Salpêtrière, gewesener Unterhund.
Entgegen seinen Befürchtungen blieben ernsthafte Verstimmungen unter den Freunden und Hüttenkoller aus. Sie rauften sich zusammen, spalteten klaglos Holz für Ofen und Herd, freuten sich kindlich über jede kleine Eskapade: die ersten zaghaften Griffe des Atomphysikers ans Euter, Alains fruchtloses Werben um die kühle, oder einfach schon vergebene, Dorfschönheit auf dem Markt in Noirmont, die schmerzhaften Reitlektionen beim gnadenlosen Zuchtmeister in Saignelégier und, nicht zu vergessen, die zahlreichen kulinarischen Expeditionen in die durchwegs respektablen Wirtshäuser der Umgebung. Zugegeben, der letzte, vierte Abend endete etwas heftig. Der Patron der Landkneipe wollte sie nicht ziehen lassen, bevor sie nicht auch noch die ›Sélection de fromages originaux‹, die üppige Auswahl lokaler Käse, konsumiert und kommentiert hatten. Selbstredend ging das nicht ohne weitere zwei Flaschen ›Gevrey Chambertin‹ und ein angemessenes Quantum Digestif für die Verdauung - alles geteilt durch vier, denn einer musste fahren. Das schwere Los traf Lorenzo, den Koch, der am letzten Tag seinen großen Auftritt haben sollte. Er hatte alles für das Abschlussbankett in der mittelalterlichen Küche vorbereitet. Die improvisierten Instrumente und Pfannen lagen auf Hochglanz poliert bereit. Am Morgen früh wollte er mit Michel zum Markt fahren. Er machte keine Kompromisse, nur absolut frische Ware kam infrage. Ein Festmahl der ›Cuisine du marché‹ sollte es werden, und weil es Oktober war und sie sozusagen im Wald hausten, gehörten nun mal auch frische Pilze zum Menü.
Lorenzos Schlafsack war leer und kalt, als Michel bei Tagesanbruch erwachte. Er musste noch in der Dämmerung losgezogen sein. Die vier Zurückgebliebenen
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