Natürliche Selektion (German Edition)
Polster gegenüber Damiens Sekretär fallen ließ.
Was der Professor als sein Büro bezeichnete, war in Wirklichkeit eine für Pariser Verhältnisse erstaunlich großzügige Suite aus Wohnzimmer, Bibliothek und Bad, sorgsam möbliert mit erlesenen Klassikern des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Wohnung wäre die ehrlichere Bezeichnung, denn er verbrachte die meiste Zeit, auch an Wochenenden, in diesen Räumen, wenn er nicht Vorlesung hielt oder in seinem Labor nach dem Rechten sah. Die vier Stunden Schlaf in der Mansarde über der Apotheke an der Rue de Vaugirard zählten nicht wirklich zu seinem Leben. Er betrachtete sie lediglich als notwendiges Übel, um seinen Metabolismus in Gang zu halten. Er holte die Flasche mit der Aufschrift ›Vinaigre balsamique‹ - ›Balsamico-Essig‹ und zwei Gläser aus der Bibliothek und stellte sie mit der Bemerkung: »Das bringt dich auf andere Gedanken«, vor Michel auf den Glastisch. »Wasser?«, fragte er, nachdem er zwei Finger breit von der kristallklaren Flüssigkeit eingegossen hatte.
Michel schüttelte den Kopf und trank den Inhalt seines Glases in einem Zug. Sein Gesicht lief rot an, er hustete, die Augen begannen zu tränen. Nur mit Mühe prustete er schließlich heraus: »Merde, willst du mich umbringen?«
Schmunzelnd verdünnte Damien seine Portion mit reichlich Wasser und nippte genussvoll an der milchigen Mischung. »72%, mein Lieber. Das ist hochprozentiges, erstklassiges Destillat. Im Schweiße meines Angesichts produziert und über die grüne Grenze geschmuggelt.«
»Es ist also kein Märchen«, brummte Michel kopfschüttelnd. Du betreibst tatsächlich eine Schwarzbrennerei.«
»Eine sehr erfolgreiche überdies. Der Gendarme ...«
Michel unterbrach ihn hastig: »Ich weiß, Commandant Matthis ist begeistert von deiner ›Grünen Fee‹. Warum ist dieses Gesöff eigentlich nicht grün?«
»Weil mein Absinth ein reines Destillat aus Anis, Wermut und Fenchel ist, ohne nachträgliche Kräuterzusätze. Mein Gesöff, wie du es liebevoll nennst, verfärbt sich daher auch nicht braun wie tote Blätter mit zunehmendem Alter. Die ›Fée Fabre‹ bleibt auch nach Jahrzehnten glasklar.«
Sein Zögling schien sich nicht wirklich für die Feinheiten der Absinth-Herstellung zu interessieren. Er schaute ihn noch immer mit traurigen Hundeaugen an, als er ironisch fragte: »Und wie viel von diesem Gift muss ich schlucken, bis ich verstehe, was mit Lorenzo geschehen ist?«
»Man kann nicht in die Seele eines Menschen schauen, auch wenn wir uns das manchmal einreden. Das weißt du genauso gut wie ich. Wer weiß, was ihn dazu getrieben hat. Wir werden es wohl nie erfahren. Du hast keine Schuld an seinem Tod, und du kannst das Rad der Zeit nicht zurückdrehen, also hör auf, dich zu quälen.«
Michel hatte ihm nicht zugehört. Plötzlich lachte er bitter auf und sagte wie zu sich selbst: »Die Aliens! Vielleicht haben ihn die Außerirdischen über die Felskante getrieben.«
Stirnrunzelnd schob Damien das Glas aus Michels Reichweite, bevor er die zweite Portion des kostbaren Schnapses hinunterstürzen konnte. Es war ihm ein Rätsel, wie sein Schüler nach ein paar Gramm Äthanol bereits den Verstand verlieren konnte.
»Keine Angst, ich bin nicht betrunken.«
»Es hört sich aber ganz danach an, mein Lieber. Du sprichst in Rätseln.«
»Kein Wunder: der eigenwillige Mucus, der aus Lorenzos Nase gekrochen kam, war nicht von dieser Welt. Jedenfalls habe ich keine Ahnung, was ich da beobachtet habe.«
»Details!«, forderte Damien. Seine wissenschaftliche Neugier war geweckt. Ungeduldig hörte er sich Michels präzise Beschreibung des seltsamen Wesens an, das wie ein Parasit auf dem Leichnam hauste und seine Gestalt scheinbar beliebig ändern konnte. »Der pathologische Befund?«, fragte er kurz und eine Spur zu scharf, nachdem Michel geendet hatte.
»Ratlosigkeit.«
»Wer hat die Autopsie durchgeführt?«
»Lombard.«
»Valérie Lombard«, murmelte Damien nachdenklich. »Eine gute Pathologin.«
»Zweifellos, aber wie gesagt: auch sie ahnungslos. Sie glaubt, das Ding sei etwas für die Biotechniker in der Cité. Jedenfalls hat sie die Proben dorthin geschickt.«
»Wohin?«
»UBTL in der Cité des Sciences. Die kennen sich aus mit Mikrobiologie.«
»Gut – gut«, flüsterte der Professor tonlos. Er saß noch lange nachdem Michel gegangen war nachdenklich vor dem süßlich duftenden Glas, ohne es anzurühren.
Hôpital Pitié-Salpêtrière, Paris
Der Patient auf dem
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