Natürliche Selektion (German Edition)
trübe Grau des spätherbstlichen Paris. Das vollkommene Abbild seines Gemütszustands. Die Ironie milderte seinen Groll ein wenig. Um seine Mundwinkel zuckte gar so etwas wie ein bitteres Lächeln. Wie jedes Mal, wenn ihn solche Gedanken quälten, meldete sich sein anderes Ich, die übermächtige Vaterfigur in seinem Innern. Sein Ich, für das es nichts Wichtigeres gab, als die kostbare Fackel der Erkenntnis weiterzugeben, in aller Bescheidenheit alles in seiner Macht zu unternehmen, um diese Welt zu einem besseren Ort für die Menschen zu machen. Er wusste genau, dass er die Lehre niemals aufgeben würde. Zu bedeutsam und wertvoll waren die gar nicht so seltenen Augenblicke, in denen er zusehen konnte, wie seine Saat aufging. Er betrachtete sich nicht als Fanatiker, aber er wusste, dass er eine wichtige Mission zu erfüllen hatte.
»Die Standpauke hat noch keinem geschadet«, sagte eine bekannte Stimme in seinem Rücken. Er fuhr herum und schaute ins grinsende Gesicht seines ehemaligen Musterschülers.
»Michel! Mach das nie wieder.«
»Tut mir leid, aber es war einfach zu schön, dir wieder mal zuzuhören.« Die Männer umarmten sich lächelnd. Vater und Sohn, so empfanden beide, auch wenn ihre Herkunft unterschiedlicher nicht sein konnte.
»Ehrlich gesagt zweifle ich manchmal ein wenig an meinen Methoden.«
Michel betrachtete seinen Mentor spöttisch und meinte: »Zweifel sind unbegründet, bei solch respektablen Ergebnissen.« Dabei klopfte er sich scherzhaft an die Brust.
»Vielen Dank für die Blumen«, lachte der Professor, »aber erzähl mir lieber, was ihr in meiner Hütte angestellt habt. Schrecklich, die Sache mit dem bedauernswerten Dr. Ricci.« Sein Gesicht wurde ernst, Sorgenfalten erschienen auf seiner Stirn. Der Tod von Michels Freund hatte ihn tief getroffen. »Ich erinnere mich gut an den jungen Mann«, murmelte er nachdenklich. »Ausgezeichneter Mediziner, hervorragender Schüler. Wie konnte nur so etwas geschehen?«
»Hat jedenfalls nichts mit deiner Fee zu tun«, antwortete Michel bitter. »Er war stocknüchtern, als er in den Wald ging.« Der Blick des Professors fixierte seinen ehemaligen Studenten, als wollte er dessen Gedanken lesen. Ohne zu blinzeln starrte Michel zurück, durch ihn hindurch, wie es schien. Fabre sah förmlich, wie der junge Mann sich an die schrecklichen Szenen erinnerte, die sich im Wald hinter seiner Hütte abgespielt haben mussten, wie er zu verstehen suchte, was geschehen war. Fast unhörbar kamen die nächsten Worte über Michels Lippen: »Als wäre er vor jemandem geflohen.«
Hatte er richtig gehört? »Wie – was meinst du damit?«, fragte er verblüfft.
»Es sah aus, als wäre Lorenzo vor jemandem – oder etwas – davongerannt, geradewegs und blindlings über die Felskante hinaus.«
Michels Aussage erschütterte ihn. »Mein Gott, weißt du, was du da sagst? Ich dachte, es war ein Unfall.« Er bekam lange keine Antwort. Es war Michel anzusehen, dass er zögerte, die wahre Geschichte zu erzählen, die wohl bisher noch niemand vernommen hatte. »War es denn kein Unfall?«, hakte er schließlich nach.
Michel zuckte die Achseln. »Ich wollte, ich wüsste es, Damien«, klagte er. »Ich habe jedenfalls keine anatomischen Anzeichen gesehen, die auf ein Verbrechen, einen Kampf hindeuten. Es scheint alles auf einen Unfall hinzuweisen. Und doch ...« Er zögerte.
»Was?«
»Die Absturzstelle. Die Felswand an der Absturzstelle ist leicht geneigt, nicht ganz senkrecht oder gar überhängend. Wäre Lorenzo dort einfach ausgerutscht, müsste er mehrfach hart am Fels aufgeschlagen sein. Sein Körper müsste übersät sein mit Hämatomen, aber die fehlen. Es sieht ganz danach aus, dass er im freien Fall auf dem Felsvorsprung aufgeprallt ist.«
»Wurde er hinuntergestoßen?«
»Definitiv nicht, auch das müsste Hämatome hinterlassen.« Michel schaute ihn beinahe hilfesuchend an, als er den einzig möglichen Schluss aussprach: »Ich verstehe es nicht, Damien, aber er muss hinuntergesprungen sein.«
»Suizid.« Er sprach das schlimme Wort aus, das dem Freund des Toten nicht über die Lippen wollte. In Gedanken versunken steckte er die Notizen zu seiner Vorlesung in die schäbige Ledermappe. Sie begleitete ihn seit jeher überall hin wie der antike, goldene Füllfederhalter in der Brusttasche seines stets blütenweißen Hemdes. »Gehen wir in mein Büro«, sagte er und schritt zur Tür.
»Ich verstehe es einfach nicht«, murmelte Michel, als er sich auf das dunkle
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