Natürliche Selektion (German Edition)
zwar die Meta-Geschichte als bloßes Schutzschild entlarvt, aber mehr wusste sie trotzdem nicht. Oder doch? Der Gedanke machte ihr höllische Angst. Mein Gott, was haben sie mit dir angestellt, Michel , dachte sie entsetzt.
KAPITEL 8
Interpol, Lyon
I n ihrer Fantasie war Leo manchmal durch dieses Tor des Glaspalastes am Rhoneknie im Norden Lyons geschritten, hatte ihre Tochter – den Lieutenant! – am Arbeitsplatz bei der Interpol besucht. Sie hatte davon geträumt, so wenigstens ein bisschen an Audreys Leben teilzuhaben. Nicht einmal zur Feier der Brevetierung war sie eingeladen. Ihre Tochter hatte alles daran gesetzt, zu beweisen, dass sie es ohne ihre unzuverlässige Mutter schaffte, und sie hatte es mit durchschlagendem Erfolg bewiesen. Vielleicht war das mit ein Grund, weshalb sie nun wirklich durch diese Tür trat. Das und ihre eigene, ganz persönliche Katastrophe.
Audrey ließ sie nicht lange warten. Kaum hatte sie sich beim Empfang angemeldet, ging die Lifttür auf und ihre Tochter kam lächelnd auf sie zu. »Willkommen in unserer Festung«, sagte sie, als sie sich küssten.
»Danke. Ich dachte nicht, dass es so einfach ist, hier einzudringen.«
»Wenn man die richtigen Verbindungen hat, kommt man überall durch.«
»Das ist wohl so.«
Audrey führte sie an langen Reihen verschlossener Türen und gläserner Großraumbüros vorbei zu einen Raum im Innern des Gebäudekomplexes. Hier drang nur durch einige Oberlichter etwas Tageslicht herein. »Wir wollen nicht, dass uns jemand auf die Bildschirme schaut«, scherzte sie. Das Zimmer glich tatsächlich eher der Betriebszentrale eines Grosscomputers oder einer Verkehrsleitstelle als einem Büro, wo Detektive ihre Aktenberge abarbeiteten. Leo zählte vier Schreibtische, auf jedem türmten sich große Flachbildschirme bis zu zwei Stockwerke hoch. Selbst wenn alle Plätze besetzt gewesen wären, gesehen hätte sie niemanden hinter diesen verkabelten Wänden.
»Hier arbeitest du?«, fragte sie etwas enttäuscht.
»Oft, ja. «, nickte Audrey, und spöttisch fügte sie hinzu: »Aber ich habe auch ein Büro mit Fenster, falls du das meinst.«
Sie ignorierte die Spitze. »Was macht ihr hier?«
»Das ist unser Labor.«
»Labor?«, wiederholte sie verblüfft. »Ich sehe keine Reagenzgläser.«
Audrey lachte. »Verstehe. Solche Labors gibt es natürlich auch in diesem Haus. Dies hier ist das Computerlabor, wie du dir vielleicht denken kannst.« Sie setzte eine verschwörerische Miene auf und senkte ihre Stimme. »Hier hat man Zugriff auf die geheimsten der geheimen Programme und Daten. Eigentlich dürfte ich dir das gar nicht zeigen.«
»Warum tust du es dann?«
»Sie will sich nur wichtig machen«, sagte eine tiefe Männerstimme hinter der Monitorwand gegenüber. Ein bärtiger Riese stand auf und musterte sie grinsend.
»Darf ich dir Isaac vorstellen, Maman? Er ist mein Partner bei der Datenanalyse. Ein Genie ohne Zweifel, reichlich mit köstlichem Humor gesegnet.«
Der schlaksige Bartträger trat schmunzelnd heran und streckte Leo die Hand entgegen. »Freut mich Madame, Sie endlich in natura kennen zu lernen.« Er tat einen Schritt zurück, musterte sie nochmals eingehend und sagte dann entschieden: »Nein, Sie sind es definitiv nicht.«
»Wie bitte?«, gab sie verwirrt zurück.
»Sie haben einen ganz andern Körper als der auf den Fotos.«
Sie wandte sich entsetzt zu Audrey um. »Du hast doch nicht ...«
»Beruhige dich, Maman. Ich musste Isaac die Fotos geben. Er ist der Beste, wenn es darum geht, gefälschte Bilder zu entlarven.«
Der Riese nickte zufrieden. »Wo sie recht hat, hat sie recht, Madame. Aber sehen Sie selbst.« Er ging an seine Schreibtischfestung zurück. Sie folgte zögernd, als sie Audreys sanften Stoß im Rücken spürte. Isaac schob ihr einen viel zu niedrigen Stuhl hin und drückte eine Funktionstaste. Das Bild auf den drei unteren Monitoren änderte sich schlagartig. In der Mitte, vor ihrer Nase, sprang ihr eines der obszönen Bilder aus der Zeitung im Großformat geradezu ins Gesicht. Sie zuckte unwillkürlich zurück. Ein leiser Fluch entschlüpfte ihrem Mund, doch Isaac ließ sich nicht beirren. Emotionslos wie ein Oberlehrer, der seinen Schülern da Vincis Gioconda erklären muss, begann er, das monströse Foto zu analysieren: »Hier, die Schatten unter dem Kinn. Mit bloßem Auge betrachtet, fällt einem nichts auf. Selbst wenn Sie genau hinschauen, sieht es so aus, als stimme die Richtung, aus der das Licht kommt,
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