Natürliche Selektion (German Edition)
lächelnd zu und antwortete: »Es stimmt schon, was Audrey Ihnen erzählt hat, Capitaine. Ich werde versuchen, meinen Bericht möglichst kurz zu halten. Sie haben sicher Wichtigeres zu tun als meine, zugegeben, abenteuerlich klingende Geschichte anzuhören.«
»Sie haben keine Ahnung«, brummte er, und die Sorgenfalten kehrten an ihren alten Platz zurück. »Danken Sie Audrey, dass ich überhaupt zuhöre. Ihre Tochter kann einem ganz schön hartnäckig auf die Nerven gehen.«
»Das hat sie von mir«, lachte Leo. Sie wusste, dass Audrey ihn bereits vorinformiert hatte. Trotzdem erzählte sie die ganze Geschichte der vier Toten nochmals in ihren Worten. Während sie sprach, beobachtete sie die Mimik des Capitaine genau, reagierte blitzschnell auf jedes noch so geringe Anzeichen von Interesse, hakte sofort mit Einzelheiten nach. Sie bewegte sich nahe an der Grenze zur Suggestion, denn dank jahrelanger Übung konnte sie sehr überzeugend sein. Je länger sie redete, desto ruhiger hörte er zu. Seine Zwischenfragen wurden seltener. Ein nachdenklicher Ausdruck lag in seinem Blick. Wie sie es gelernt und tausend Mal praktiziert hatte, schloss sie mit einer prägnanten Zusammenfassung der entscheidenden Punkte: »Sie sehen, Capitaine, ich bin überzeugt, dass es hier nicht nur um vier gewaltsame Todesfälle geht, was schlimm genug wäre, aber Ihre Behörde nicht weiter beschäftigen müsste. Alle vier Opfer und mindestens drei weitere Männer sind nachweislich mit einer bisher unbekannten Art von Psychopharmaka des Schweizer Pharma-Multis Remedis behandelt worden, und zwar ohne ihr Wissen, gegen ihren Willen. Diese Droge ist weltweit nirgends zugelassen, sonst wäre sie in Fachkreisen bekannt. Wir wissen jetzt, dass sie zumindest bei drei der Opfer schwere schizophrene Zustände erzeugt hat. Ich bin mir sicher, dass auch das Desaster von Tricastin direkt auf diese Droge zurückzuführen ist. Es ist ein Verbrechen geschehen, das sich über mindestens zwei Länder erstreckt, und dem noch weitere Menschen zum Opfer fallen könnten, wie ich fürchte. Ein zweites Tricastin oder Schlimmeres ist nicht auszuschließen.«
Er schaute sie lange schweigend an, bevor er antwortete: »Durchaus möglich, dass etwas dran ist an Ihrem Verdacht, Madame. Ich möchte Ihnen gerne glauben, und ich denke, die Präfekten der Region Rhône-Alpes hätten nichts dagegen, wenn Remedis ihnen die halbe Milliarde zurückzahlen würde, die sie für die Evakuation und die Folgekosten zum Fenster hinausgeworfen haben. Aber für eine Strafverfolgung müssen wir die Staatsanwälte in Frankreich und der Schweiz überzeugen, und dafür braucht es direkte, eindeutige Beweise.«
Zum ersten Mal meldete sich Audrey zu Wort. »Henri, genau dafür brauche ich etwas Zeit, um harte Beweise zu beschaffen. Wir sind einer Riesen-Schweinerei auf der Spur. Wir können nicht einfach auf die nächste Katastrophe warten oder zusehen wie weitere Menschen sterben.«
»Was wir können und was nicht entscheide immer noch ich«, knurrte er, aber Leo sah ihm an, dass er mit sich kämpfte. Audrey hatte wohl denselben Eindruck, denn sie schwieg. »Ich sage euch, was wir tun«, sagte er nach kurzem Überlegen. »Du hast genau bis nächsten Montag Zeit, Audrey, Beweise zu beschaffen, damit wir einen Fall haben, sonst vergessen wir die Sache. Und keine offiziellen Kontakte nach außen, Verstanden?«
»Alles klar, danke.« Audrey wandte sich zur Tür und zog ihre Mutter hinter sich her. Audienz beendet, keine Zeit für langes Händeschütteln.
Es war bereits Dienstag. Der Capitaine schlug ein forsches Tempo an, aber Leo kam das nur gelegen. Audrey konnte nun wenigstens guten Gewissens ein paar Tage für die Recherchen erübrigen, die ihr selbst so wichtig waren. Der Capitaine hatte sich überraschend vorsichtig ausgedrückt. »Was meint er mit ›keine offiziellen Kontakte‹?«, fragte sie auf dem Weg zu Audreys Büro.
Sie schmunzelte. »Ist dir also auch aufgefallen. Das ist unser Fachausdruck dafür, alle inoffiziellen Kontakte zu nutzen. Notfalls auch alte Schulden einzufordern, um an Informationen zu kommen. Nur nichts Schriftliches, keine offiziellen Anfragen.«
»Ihr habt ja echt was drauf«, spottete Leo.
Das Büro ihrer Tochter war ein kleiner Glaskubus mit Aussicht auf den Fluss und die Stadt. Hell, aufgeräumt und doch voller Geschichten. Auf ihrem halbhohen Aktenschrank hinter dem Schreibtisch hatte sich eine eindrückliche Schar Plüschkätzchen versammelt. Viele
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