Natürliche Selektion (German Edition)
litten an Haarausfall, besaßen nur noch ein Ohr, oder ihr Schwanz lahmte bedenklich. Das waren Audreys älteste Spielkameraden, an die sich Leo kaum mehr erinnerte. Sie glaubte es kaum: ihre Tochter, die sich gerne so nüchtern, schneidig und kaltblütig, fast gefühllos gab, hatte ihre Kindheit ins Büro gerettet. Eine wohlige Wärme erfüllte sie. Am liebsten wäre sie ihr auf der Stelle um den Hals gefallen.
Audrey tat so, als bemerkte sie Leos Verblüffung nicht. Sie setzte sich unverzüglich an den Computer. »Wie war noch mal der Name dieser Ortschaft im Jura?«, fragte sie, während sie sich einloggte.
Leo riss sich vom Anblick der Vergangenheit los. »Saignelégier«, antwortete sie mechanisch. Ein anderer Gedanke beschäftigte sie schon seit der ersten Hypnosesitzung. »Vielleicht kommen wir schneller zum Ziel, wenn wir nach dieser Meta suchen«, meinte sie.
»Die Geschichte ist doch ein Märchen, reine Fantasie, dachte ich.«
»Das stimmt nicht. Das habe ich so auch nicht gesagt. Die Geschichte der schönen Meta überdeckt die wahren Erinnerungen. Damit das funktioniert, muss die eingepflanzte falsche Erinnerung, oder Suggestion, einen wahren Kern haben, der selbst stark genug im Gedächtnis eingeprägt ist. Ich bin sicher, dass es diese Frau wirklich gibt, Audrey.«
Ihre Tochter zuckte die Achseln. »Wie du meinst, Frau Doktor. Und sie heißt auch wirklich so?« Sie nickte. »Meta – ein sehr ungewöhnlicher Name«, murmelte Audrey.
»Das erhöht unsere Chance, sie zu finden. Such doch mal die Metas in jener Gegend. Vielleicht lebt sie ja immer noch dort.«
»Bin schon dabei, Maman. Ich mache das nicht zum ersten Mal.«
Sie errötete. »Entschuldige.« Sie wartete ungeduldig, während Audreys Finger flink über die Tastatur glitten.
»Kriminelle Metas gibt es schon mal nicht in der Region«, sagte sie schließlich. »Aber drei andere habe ich gefunden.«
Leo sprang wie elektrisiert um den Tisch herum und schaute ihr über die Schulter. Der Monitor zeigte eine Liste mit drei Namen, jeder gefolgt von unverständlichen Symbolen und Codes. »Kannst du mir das bitte übersetzen?«, drängte sie aufgeregt.
»Klar. Aber außer dem Todesdatum der ersten Meta fällt nichts auf. Die andern scheinen beide infrage zu kommen.« Sie klickte auf die Links, um die Details anzuzeigen. »Siehst du: die eine ist Hausfrau, lebt seit fünf Jahren in Frankreich. Die dritte ist Wirtin in einem Kaff namens St. Ursanne im Schweizer Jura.«
»Die ist es!«, rief Leo ohne einen Augenblick zu zögern.
»Woher willst du das wissen?«
»Bauchgefühl. Gibt es kein Bild von ihr?«
Audrey schüttelte bedauernd den Kopf. »Von dieser Frau nicht, da sie in der Schweiz lebt. Die Eidgenossen sind sehr zurückhaltend mit Daten. Aber die andere habe ich gefunden.«
Leo brauchte sich das unscharfe Bild nur flüchtig anzusehen, um zu wissen, dass diese Frau nicht die gesuchte Schöne sein konnte. Die schmalen Lippen stimmten schon nicht. »Es ist die Wirtin, glaube mir. Wir sollten dort beginnen.« Auch ohne weitere Diskussion wussten beide, was sie meinte.
»Auf nach St. Ursanne«, schmunzelte Audrey.
St. Ursanne, Schweizer Jura
Nach mehr als vier Stunden Autobahnfahrt über Beaune und Besançon, eingezwängt in Audreys niedlichen, roten Clio, atmete Leo hörbar auf, als sie endlich an der ersehnten Ortstafel vorbeifuhren. St. Ursanne. Die schmale Strasse führte am mächtigen Bogen des Eisenbahnviadukts vorbei steil ins Tal hinunter. Hier also, unter einem dieser roten Ziegeldächer des beschaulichen Fleckens zwischen Fluss und schroffen, bewaldeten Hügeln, wohnte die Frau, die vielleicht wusste, warum Michel und die anderen sterben mussten. Im Schritttempo fuhren sie durch das Stadttor ins winzige Städtchen. Es war wie eine Zeitreise ins Mittelalter. Pastellfarbige Bürgerhäuser säumten holprige, gepflasterte Gassen, über denen bunte Flaggen sanft im Wind flatterten. Kneipe, Werkstatt oder Laden im Erdgeschoss, darüber die schmalen Fenster der Wohnungen, eingerahmt von grünen und roten Holzjalousien, die glänzten, als wären sie frisch gestrichen. Nur die Autos am Straßenrand holten einen in die Gegenwart zurück. Die Strasse erinnerte Leo entfernt an ihr Zuhause auf der Butte aux Cailles.
»›Hôtel du Bœuf‹, das ist es nicht«, murmelte Audrey.
»Das ›Demi-Lune‹ ist weiter vorn, unten am Fluss bei der Brücke.«
»Ich weiß. Ich frage mich nur, wo wir dort parken können.«
»Dieses Ding hat doch in
Weitere Kostenlose Bücher