Natürliche Selektion (German Edition)
mit dem Rest des Bildes überein. Aber passen Sie mal auf!«
Leo fürchtete, sich zu übergeben, wenn sie das Machwerk noch länger anschauen musste, aber sie zwang sich, seinen Erklärungen weiter zu folgen. Es ging immerhin um ihre Ehre. Mit wenigen Handgriffen öffnete er mehrere Fenster mit stark vergrößerten Bildausschnitten.
»Jetzt sieht man schon deutlich, dass der Schattenwurf im Gesicht nicht übereinstimmt mit den Schatten der übrigen Körperteile«, fuhr er weiter. »Sehen Sie es?«
Sie nickte etwas unsicher. Der Unterschied überzeugte sie noch nicht wirklich. »Wird es deutlicher, wenn Sie es noch mehr vergrößern?«
»Eher nicht. Dann verschwimmen die Kontraste zu sehr. Aber das ist auch gar nicht notwendig. Jeder Fachmann wird Ihnen schon nach dieser simplen Analyse bestätigen, dass dieses Foto eine Fälschung ist. Das hier ist zwar Ihr schönes Gesicht, Madame, aber nicht Ihr Körper. Wie ich schon sagte.«
Charmant konnte Isaac also auch sein. Sie warf Audrey einen vielsagenden Blick zu, dann schaute sie wieder auf die Bildschirme. Andere Fenster mit kontrastreichen Farbmosaiken wie falsch gemalte Regenbogen und Diagrammen wie Fieberkurven umrahmten nun das Foto.
»Das ist sozusagen der numerische Beweis der Fälschung«, sagte er. »Unsere Software misst Lichtmenge, Schärfe, Kontrast und Farbtemperatur an verschiedenen Stellen. Ist ein Teil des Bildes aus einer anderen Aufnahme hineinkopiert worden, so unterscheiden sich diese Parameter normalerweise von den Werten der Umgebung. Das sieht man deutlich an diesen Kurven.«
Sie begriff lediglich, dass die Kurven verschiedene Formen hatten, nickte aber zustimmend, um ihn nicht aus dem Konzept zu bringen.
Befriedigt fuhr er fort: »Die Software kann natürlich noch wesentlich mehr. Um es einfach auszudrücken, können wir feststellen, mit welcher Art Objektiv bestimmte Teile eines Bildes geknipst worden sind. Jede Brennweite hinterlässt zum Beispiel ein anderes Muster bei der Abbildung von Kanten.« Er zeigte auf Ausschnitte der Augenbrauen und der Ellbogenpartie. »Das Gesicht stammt aus einer Aufnahme mit Normalobjektiv, der Körper ist hingegen mit einem Teleobjektiv fotografiert worden.«
»Bingo!«, rief sie aus. »Sie haben mich überzeugt. Ich nehme an, diese Analyse wird auch den Richter überzeugen?«
Audrey antwortete an seiner Stelle: »Selbstverständlich, was denkst du denn. Du bist aus dem Schneider, und die Zeitungsfritzen sollten sich warm anziehen.«
»Gott sei Dank!«, seufzte sie. Ein warmer Schauer durchlief ihren Körper. Diese Schlacht war gewonnen.
»Danken Sie lieber der Technik«, grinste Isaac. »Sie macht es uns leicht, Fälschungen zu produzieren, aber auch, sie zu entlarven.«
Sie sprang auf. »Großartig. Sie haben was gut bei mir«, antwortete sie und klopfte ihm auf die Schulter. »Und lassen Sie das Foto verschwinden!«
Mit einem Tastendruck schalteten alle Bildschirme auf die Arbeitsumgebung zurück, die er vorher verlassen hatte. Gerade rechtzeitig, bevor die Tür mit einem Knall aufflog. Ein untersetzter, älterer Boxer mit einer Haut so weiß, als hätte sie noch kein Sonnenstrahl getroffen, stürmte herein. »Audrey, in mein Büro!«, rief er, drehte sich auf dem Absatz und empfahl sich mit einem weiteren Knall.
»Was war denn das?«, wunderte sich Leo.
»Der Chef. Keine Sorge, der ist immer so.« Audrey gab ihr ein Zeichen, ihr zu folgen. Vom bärtigen Riesen war nichts mehr zu sehen. Er hatte sich in seiner Festung eingeigelt.
Der Boxer stand am Fenster und kehrte ihnen den Rücken, als sie eintraten. »Es ist ja nicht so, dass du verzweifelt Arbeit suchst, Audrey, nicht wahr?«, sagte er zur Begrüßung. Erst als er sich umwandte, bemerkte er Leo. »Oh, und wer zum Teufel sind Sie?«
Die unfreundliche Begrüßung störte sie nicht. Ihr Tag war bereits gerettet. Sie gab ihm die Hand mit einem warmen Lächeln, während Audrey sie vorstellte. »Capitaine Delcour – Dr. Eleonora Barrès-Bruno.« War es der magische Name Barrès, den Audrey mit Bedacht erwähnte oder ihre umwerfend jugendliche Erscheinung? Auf dem Gesicht des Capitaine zeichnete sich jedenfalls etwas wie ein Lächeln ab. Die strengen Sorgenfalten glätteten sich, und seine Stimme klang weniger metallisch, als er zu Leo sagte:
»Unmöglich, Sie können nicht ihre Mutter sein. Die Schwester vielleicht.«
Es sollte zweifellos ein Kompliment sein. Leo wollte ihn nicht enttäuschen. Noch einmal nickte sie ihm freundlich
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