Nauraka - Volk der Tiefe
dort, unter dem Kopf des Ungeheuers, sah sie endlich eine Lücke, die sich nicht schließen konnte, da die Planke sich verkeilt hatte. Fliehende drängelten sich davor, schubsten sich dann gegenseitig hindurch.
Es war Wahnsinn, sich dorthin zu bewegen, aber der einzige Weg. Mit grotesken, kräftezehrenden Sprüngen bewegte Lurdèa sich auf das ersehnte Fenster zur Freiheit zu. Von dem Tumult in der Nähe durfte sie sich nicht beeindrucken lassen, Piraten und Nuramar waren vollauf miteinander beschäftigt, niemand würde sie bemerken.
Das Ungeheuer schwenkte seinen Schnabel über den Markt und achtete nicht auf das, was direkt unter ihm geschah.
Lurdèa nahm all ihren Mut zusammen, sie sah nur noch das Ziel vor Augen, glaubte schon das erlösende Wasser um sich zu fühlen.
Da entdeckte sie einen der Piraten, der ihren Weg kreuzte, nur noch einen Sprung von der Lücke entfernt. Sie hielt an und erkannte sofort zwei Dinge: Zum einen wollte der Pirat ihr gar nicht den Weg versperren, sondern war auf der Flucht, und zum anderen war es ein Piratenkind, ein Knabe von vielleicht zwölf Korallenringen.
Lurdèas Augen erfassten blitzschnell den Verfolger, ein bärtiger Mann, der einen Speer hielt und in dessen Augen nackte Mordlust glühte.
Ein Kind , dachte sie. Er will einfach ein Kind umbringen.
Und dann handelte sie.
Der Angreifer hob den Speer, zog den Arm zum Wurf durch, und Lurdèa streckte die gefesselten Hände aus, soweit es ihr möglich war, sprang auf den völlig überraschten Jungen zu, erwischte ihn am Arm, stieß sich ein zweites Mal ab und hechtete mit ihm zusammen durch die Lücke ins Wasser.
Der Fall war nicht tief, und schon im nächsten Moment schlugen die Wellen über ihnen zusammen. Der Junge strampelte panisch, mit angstvoll aufgerissenen Augen, wohingegen Lurdèa voller Glück die samtene Nässe um sich spürte, die sie liebkoste und umarmte. Doch sie durfte nicht zu lange verweilen, das Kind musste zum Atmen sofort an die Oberfläche. Mit kräftigem Beinschwung trug sie den Jungen wieder nach oben und durchbrach mit ihm zusammen die Wasserlinie.
Hastig schnappte sie nach Luft und hielt das Kind fest, das immer noch wild um sich schlug.
»Lass mich los!«, schrie es mit sich überschlagender Stimme. »Lass mich sofort los!«
»Halt still!«, gab sie zurück, und als der Knabe anfing, nach ihr zu treten, tauchte sie ihn kurz unter Wasser, zog ihn wieder hoch und schüttelte ihn. »Reiß dich zusammen, Pirat!«, fuhr sie ihn barsch an. »Ich rette dich, ich will dich nicht töten!«
Der Junge gab endlich auf und starrte sie hasserfüllt an. »Ein Pirat braucht keine Hilfe! Und schon gar nicht von einer Meerfrau!«
»Sei ruhig, oder ich tauche dich noch einmal unter, und dann bleibst du länger unten!«, drohte sie. Hastig sah sie sich um. Auf der Seerose wurde immer noch gekämpft. Inzwischen hatten sich viele ins Wasser geflüchtet und versuchten, die fliehenden Schiffe zu erreichen. Lurdèa konnte nicht erkennen, welches davon Horwik gehörte. Aber vermutlich wäre es ohnehin keine gute Idee, sich von ihm an Bord ziehen zu lassen.
»Bring mich zu meinem Dsuntari, sofort!«, verlangte der Junge.
Lurdèa musste unwillkürlich schlucken. Das riesige Geschöpf, das in der Nähe im Wasser schaukelte, musste über vierzig Mannslängen messen, sein Schwanz war halb so lang wie sein Hals. Vier Paddelflossen trugen einen sehr breiten, flachen, mit einem Rückenpanzer bedeckten Körper, auf dem die Piraten eine gewaltige Festung gebaut hatten. Die Ränder des Panzers waren nach außen aufgebogen, mit vier hornartigen Auswüchsen.
Kein Wunder, dass niemand die Annäherung der Piraten bemerkt hatte, mit diesem Wesen waren sie vermutlich rasendschnell unterwegs und hielten sich beim Angriff so knapp über der Wasserlinie, dass die Festung zu einer Plattform der Schwimmenden Seevölker zu gehören schien und sie erst im letzten Moment erkannt werden konnten, wenn es bereits zu spät war.
»Schwimm selber hin, ich muss weiter«, sagte sie zu dem Jungen und wollte ihn loslassen, da klammerte er sich panisch an sie.
»Das kann ich nicht!«
»Du kannst nicht schwimmen?«, wiederholte sie ungläubig.
Der Junge heulte beinahe. »So ist es eben, na und? Trotzdem kann ich ein Pirat sein!«
»Was habe ich da nur getan«, murmelte sie, packte ihn und schwamm langsam auf den Dsuntari zu. Kurz bevor sie eine der riesigen Flossen erreichten, wurden sie bemerkt und aus dem Wasser gefischt.
»Brave Beute,
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