Nauraka - Volk der Tiefe
Oberlippenbart. »Danke für deine hohe Meinung«, sagte er finster.
»Ich wollte euch nicht beleidigen, es ist die reine Wahrheit«, versetzte Erenwin. »Eure Sinne sind stumpf. Ich aber erkenne schon von weitem am Geruch, ob jemand Angst hat, egal wie martialisch er sich geben mag. Ich sehe das Unbewusste, was ihr durch falsche Gesten vertuschen wollt. Ich habe hier«, er legte den Finger zwischen Lippe und Nase, »einen besonderen Tastsinn für Gefahr, für Furcht, aber auch für Ausgeglichenheit. Sträubt sich da etwa gerade dein Bart, Koldar, weil du spürst, dass etwas mit dem Bier nicht in Ordnung ist?«
Kurzes Gelächter machte die Runde, als Koldars Hand unwillkürlich wieder zum Mund hochzuckte. »Was ist denn damit nicht in Ordnung?«, rief er.
»Palfir hat vorhin einen Fischschwanz in den Krug geworfen, bevor er dir nachgoss«, antwortete Erenwin.
Entsetzt kippte Koldar den Rest aus, und tatsächlich, ein Fischschwanz fiel heraus. Nun brüllten viele vor Lachen, während der rothaarige Hüne fluchend dem bereits fliehenden Scherzbold hinterherrannte.
»Erzähl uns etwas über den Kampf, Erenwin!«, rief einer aus der Menge.
»Ja, wie kämpfen die Nauraka?«, fielen andere ein.
»Im Kampf sind sie Menschen gegenüber ebenfalls im Vorteil«, sagte Erenwin. »Hier an Land kann man nur nach zwei Seiten kämpfen – vor oder zurück, links oder rechts. Das ist plump und schwerfällig, und voraussehbar, weil der Kampf derart beschränkt ist. Ich kann hier an Land leicht berechnen, was mein Gegner als Nächstes tun kann, und aus wenigen Möglichkeiten die wahrscheinlichste wählen. Nauraka hingegen kämpfen in alle Richtungen, auch oben und unten ist ihnen nicht verwehrt. Sie müssen ihre Sinne auf vier Richtungen ausdehnen. Das ist gleichwohl herausfordernder und schwieriger, zugleich eleganter.«
Fangur glaubte dem jungen Mann jedes Wort, fragte sich aber, wie viel Erfahrung und Können er selbst besitzen mochte, nachdem er mindestens zwei Jahre bei Laoren in Knechtschaft verbracht hatte.
»In welchem Alter lernt ein Nauraka zu kämpfen?«, stellte jemand die richtige Frage.
»Ich war fünf Korallenringe alt … ich meine fünf Jahre, als meine Ausbildung begann«, erklärte Erenwin. »Und nicht nur im Kampf, sondern auch in der Geistesbildung. Jeden Tag, oder Helldämmer, wie es in der Tiefe heißt. Manchmal auch nachts. Allerdings ist das nur bei den Adligen der Fall, das einfache Volk hat es leichter.«
»Vermisst du dein Volk?«, fragte Fangur dazwischen, der immer nachdenklicher wurde und dem sehr wohl aufgefallen war, dass Erenwin nie von »wir« sprach, sondern von »den« Nauraka.
»Ich habe kein Volk mehr«, antwortete er.
»Weißt du was, Erenwin?«, sagte Koldar, der gerade zurückkam und sich schweratmend in den Sand fallen ließ. Der Schweiß tropfte ihm von der Stirn, und er rieb sich die Fingerknöchel der rechten Hand. »Genau das ist dein Problem. Du fühlst dich über uns erhaben, aber andererseits hast du keine Möglichkeit mehr, zu deinem ach so edlen Volk zurückzukehren. Du hast keinen Anteil an unserem Leben, du bist nur auf dich selbst fixiert und schiebst deinen Fluch vor, um zu niemandem eine Beziehung aufbauen zu müssen. Deswegen willst du auch so bereitwillig die Schmutzarbeit für andere übernehmen, weil sie keine Bedeutung für dich hat. Nichts bedeutet dir etwas. Hast du auf dem Ritt hierher überhaupt bemerkt, in welchem Zustand die Dörfer waren, durch die wir kamen? Und die Menschen, die wir im Auftrag des Fürsten berauben? Du wandelst durch unsere Welt wie ein Toter.«
Daraufhin trat Schweigen ein. Viele wandten sich betreten ab. Fangur bekam beinahe Mitleid, als er den Ausdruck auf dem Gesicht des jungen Mannes sah, in dessen glasschwarzen Augen sich das Feuer spiegelte, ohne Wärme zu zeigen.
»Ich bin … ein Toter«, sagte Erenwin schließlich leise. »Jeder in der See weiß das, selbst die anderen Völker. Ich kann dort nirgends leben, nicht einmal als Einsiedler. Ich trage etwas in mir, das mich zu Dingen zwingt, die ich nicht tun will, und die meine Seele zerstören. Gleichzeitig werde ich innerlich immer tauber und leerer, unfähig, noch etwas Gutes zu empfinden. Stück um Stück geht verloren, bis nichts mehr bleibt. Ich klammere mich an meine Suche, ich will die Hoffnung nicht aufgeben, dass ich … meine Schwester finde. Lurdèa. Ich gab ihr mein Versprechen und habe sie verloren.« Er blickte auf, und Fangur sah eine Träne über seine Wange
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